Die im diesjährigen Friedensgutachten der großen deutschen Friedensforschungsinstitute zu findende Verwendung des seit Scholz’ Bundestagsrede vielzitierten Begriffs der »Zeitenwende« vermittelt zwei zentrale Interpretationen der russischen Aggression gegen die Ukraine: Offenbar gibt es seitdem eine fundamental neue und völlig überraschend aufgetretene weltpolitische Lage. Außerdem folgt aus dieser Herausforderung eine ebenso grundsätzliche Veränderung der Wahrnehmung der sicherheits- und verteidigungspolitischen Umwelt und damit des nationalen und internationalen (vor allem europäischen oder westlichen) Handelns gegenüber Russland, aber auch gegenüber anderen autoritären und offensiven Akteuren, wie etwa der Volksrepublik China.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat nicht nur Folgen für die Europäische Union und die Sicherheits- und Verteidigungspolitik unseres Landes. Vielmehr ist dieser Krieg der sichtbarste und auch der bislang tragischste Beleg dafür, dass sich die Welt in einem dramatischen Wandel befindet: Die alte Weltordnung, die von den demokratischen Industriestaaten geprägte »Wilsonian Era«, verliert ihre prägende Kraft, und mit ihr endet auch die Dominanz Europas in der Welt.
Am 17. Juni 2022, knapp vier Monate nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine, verkündete Präsident Vladimir Putin auf dem Wirtschaftsforum in St. Petersburg, dass er für sein Land eine »führende Rolle bei der Gestaltung der globalen Machtverhältnisse« beanspruche. Während der Westen sich noch immer wie eine Kolonialmacht des vergangenen Jahrhunderts verhalte, sei Russland »mächtig« und »modern«; und es sei offensichtlich, dass die »Regeln« einer »neuen Weltordnung« von »starken und souveränen Staaten« festgelegt werden müssten. Bereits im Sommer 2019 hatte Putin die »liberale Ordnung« für »obsolet« erklärt und sein Außenminister, Sergei Lawrow, die Schaffung einer »post-westlichen Weltordnung« propagiert.
Angesichts des russischen Kriegs in der Ukraine und einer wachsenden Angst vor russischer Aggression durchlaufen die Länder im Norden Europas ihre eigene sicherheitspolitische Zeitenwende mit umfassenden Anpassungen bisheriger Ausrichtungen und Grundsätze. Dadurch rücken sie nicht zuletzt enger zusammen.
Die Erwartung, dass Kriege immer mehr Cyberkriege sein werden, kursiert bereits seit vielen Jahren. Doch bislang hat es keinen Krieg gegeben, bei dem die Cyberkomponente tatsächlich eine mehr als unterstützende Rolle gespielt hätte. Der Ukrainekrieg macht vollends erkennbar, was in strategischen Analysen schon seit einiger Zeit als Szenario diskutiert wird und jetzt möglicherweise Realität gewinnt: das nahezu völlige Fehlen einer ernsthaften Cyberkomponente.
Lange bevor Russland die Ukraine am 24. Februar dieses Jahres überfiel, wurde über eine mögliche weitere Eskalation des zwischen beiden Ländern seit 2014 bestehenden Konflikts spekuliert. Für den Fall einer Invasion aus mehreren Richtungen, wie sie Russland seit dem Truppenaufmarsch im Frühjahr 2021 andeutete, sahen westliche Militärexpert:innen eine rasche Niederlage der ukrainischen Armee voraus. Wesentlich für diese Einschätzung waren die kampflose Aufgabe der Krim durch die Ukrainer im Frühjahr 2014 und die enormen Probleme, auf die die ukrainische Armee bei der anschließenden Verteidigung der Ostukraine immer dann stieß, wenn Russland direkt eigene Truppe entsendete.
Nach der Invasion russischer Truppen in die Ukraine verkörpert der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in der westlichen Wahrnehmung die heroische Widerstandskraft seines Landes gegen den russischen Aggressor. Mit Dreitagebart, wohltrainiertem Oberkörper und gekleidet in legerem Militärgrün steht er bei seinen Fernsehauftritten und Ansprachen an die Welt für den unerschütterlichen Willen, das vermeintlich übermächtige russische Militär zurückzuschlagen und Freiheit und Demokratie gegen Wladimirs Putins repressive Autokratie zu verteidigen.
Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine stellt die bis dato in Europa als verbindlich aufgefasste Regelordnung, den Glauben vieler an die Möglichkeit der Lösung von Konflikten mit politischen Mitteln – in Aushandlungsprozessen, aufbauend auf der Kompromissbereitschaft aller Beteiligten – infrage. Auch die Werteordnung wird erschüttert. Welche Folgen hat der Ukrainekrieg für das Selbstverständnis einer Gesellschaft, die sich als »postheroisch« definiert, Heldentum nur jenseits kriegerischer Handlungen anerkennt und gleichzeitig die Ukraine durch Waffenlieferungen unterstützt?
Dieser Beitrag soll den Aspekt des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) fokusssieren. Denn die Entwicklung der europäischen Migrationspolitik, die sich nicht auf erzwungene Migration, sondern etwa auf Arbeitsmigration bezieht, ist schnell zusammengefasst: In den fast 25 Jahren seit Amsterdam wurden kaum nennenswerte Instrumente der Ermöglichung von Arbeitsmigration geschaffen.
Die Corona-Pandemie, der Krieg in der Ukraine und der Klimawandel stellen massive Herausforderungen für unsere Gesellschaft dar und machen vielfältige Anpassungsprozesse notwendig. Diese beinhalten die Fähigkeit, komplexe, häufig unübersichtliche und teils sehr wechselhafte Veränderungen zu erfassen, sich auf diese einzustellen und sie zu bewältigen. Beispiele hierfür sind wirtschaftliche Unsicherheit, Mangel- und Verlusterfahrungen, soziale Isolation sowie Ängste vor Krieg, Gewalt und Armut.
Verglichen mit anderen europäischen Ländern – von den USA ganz
zu schweigen – erscheint die deutsche Demokratie zu Beginn der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts weniger fragil und gefährdet, als aufgrund des immensen Veränderungsdrucks, der von innen und außen auf sie einwirkt, vielleicht zu erwarten wäre. Ob und wie lange das auch in Zukunft so bleibt, ist jedoch keineswegs sicher.
Es gehört zu den Routinen des Politikbetriebs nach einem Regierungswechsel: In den ersten Wochen nach der Wahl sind die Wähler nostalgisch, ein kleines bisschen scheinen sie ihre Wahl zu bereuen. Die Furcht vor Veränderung lässt die Vorgängerregierung noch einmal in mildem Licht leuchten. Dann aber, wenn die Neuen sich zurechtgerumpelt haben, der Koalitionsvertrag geschlossen ist und frische Energie durch die Chefetagen strömt, beginnt die Abrechnung.
Mit seiner Regierungserklärung am 27. Februar 2022 prägte Bundeskanzler Olaf Scholz einen Begriff, der die politische Debatte seitdem bestimmt: »Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents [...] Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.«
Die Bundesrepublik Deutschland hat nach der deutschen Wiedervereinigung und dem von Francis Fukuyama 1989 und 1992 beschriebenen »Ende der Geschichte« ihre liberal ausgerichtete Politik in erster Linie auf wirtschaftlichen Austausch mit dem »Rest der Welt« ausgerichtet: Freihandel, internationaler Güter- und Dienstleistungsaustausch, Freizügigkeit von Arbeitskräften und Kapital etc. waren die Grundlage für eine verstetigte Prosperität in Gesamtdeutschland.
»Die Zeiten ändern sich«, sagt eine Alltagsweisheit, der man kaum widersprechen mag. Klassisch Gebildete können hier noch anfügen »... et nos mutamur in illis« (und wir verändern uns in bzw. mit ihnen). In diesem Zusammenhang kann man sich fragen, ob Bundeskanzler Olaf Scholz mit seinem vielzitierten Ausdruck Zeitenwende eine Trivialität formuliert hat.
Der Wunsch nach einer grundlegend anderen Politik in der Bevölkerung war so groß wie nie in den vergangenen dreißig Jahren.« Selbst der Nachfolgekandidat der Kanzlerinnenpartei meinte nicht auf Aufbruchsmetaphorik verzichten zu können, auch wenn die Narrative einer ach so erfolgreichen 16-jährigen Ära und eines nunmehr notwendigen Modernisierungsjahrzehnts kaum in Einklang zu bringen waren.
Der Begriff »Zeitenwende«, der im politischen Diskurs gegenwärtig eine ungeahnte Konjunktur erlebt, stellt einen Versuch dar, die jüngsten Entwicklungen sowie die daraus abzuleitenden neuen Herausforderungen gedanklich zu fassen. Eine Zeitenwende im engeren Sinne impliziert das Ende einer bestehenden Ära oder Epoche und zugleich den Anfang einer neuen Zeitrechnung.
Ein bunter Strauß von Zustandsbeschreibungen in Politikwissenschaft und Medien illustriert die gegenwärtige Situation der LINKEN. Die Partei befinde sich im »Irrgarten«, in einem »Ausnahmezustand ohne Ende«, gleiche gar einem »Trümmerhaufen«. Diese kurze und unvollständige Auflistung verdeutlicht: Die Lage ist ernst.
Nach Jahrzehnten eines bipolaren Parteiensystems, in dem sich die gemäßigte Rechte und die gemäßigte Linke an der Regierung abgelöst hatten, wird die französische Parteienlandschaft fortan von drei Blöcken dominiert: einer sozialökologischen Linken, einem liberalen Zentrum und einer national-autoritären Rechten.
Angesichts sich häufender Nachrichten von privaten, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Katastrophen, die seit Jahren über uns hereinbrechen, drängen sich uns – vor wie nach der 2022 deklarierten Zeitenwende – zunehmend Worte wie »apokalyptisch« auf, um unser Entsetzen und unsere Ohnmacht auszudrücken. Seuche, Krieg, da muss nur noch einer von vier Reitern reden, damit jedem von uns irgendein apokalyptisches Szenarium vor Augen steht. Diese Motive, vielleicht auch die unheilgeladene Atmosphäre, die auf dem letzten Buch des Neuen Testamentes lastet, haben sich tief in unserem kollektiven Gedächtnis abgelagert, ohne dass wir darum die Offenbarung des Johannes gelesen haben müssten.
Großbritannien hat seine Zeitenwende schon hinter sich. Nach dem Brexit war die Welt nicht mehr wie vor dem Brexit. Und das liegt nicht am Projekt an sich, sondern an der Methode, mit der es verwirklicht wurde. Nicht der Austritt aus der Europäischen Union hat das Königreich in seinen Grundfesten erschüttert, sondern der Rechtspopulismus, mit dem er durchgeboxt wurde.
»Ich feier’ keinen Gottesdienst mehr!« Das war die Mitteilung eines evangelischen Bremer Gemeindepastors bei einer Silvesterfeier mit Kollegen auf Langeoog im Jahr 1967. Bei diesen Worten in Sektlaune sollte es nicht bleiben. Tatsächlich schaffte er im Mai 1968 den Sonntagsgottesdienst in seiner Kirchengemeinde ab, wodurch er (west-)deutschlandweit bekannt wurde.