Parlamentarische Zeitenwenden Konstruktive Misstrauensvoten in der Bundesrepublik

Von Mahir Tokatlı

Der Begriff »Zeitenwende«, der im politischen Diskurs gegenwärtig eine ungeahnte Konjunktur erlebt, stellt einen Versuch dar, die jüngsten Entwicklungen sowie die daraus abzuleitenden neuen Herausforderungen gedanklich zu fassen. Eine Zeitenwende im engeren Sinne impliziert das Ende einer bestehenden Ära oder Epoche und zugleich den Anfang einer neuen Zeitrechnung. In einem weiteren Begriffsverständnis lässt sich unter Zeitenwende jede grundsätzliche politische Veränderung fassen.
In Demokratien besitzt die Bevölkerung mit Stimmrecht die Möglichkeit, an der Wahlurne politische Wenden oder Kurswechsel einzuleiten. In parlamentarischen Systemen sind politische Zeitenwenden sogar inmitten einer Legislaturperiode denkbar. Dabei entspricht das in der Bundesrepublik eingeführte konstruktive Misstrauensvotum mit seiner zeitgleichen Ab- und Neuwahl eines Regierungschefs der Definition einer Zeitenwende im weiteren Sinne ziemlich präzise.
Periodisch wiederkehrende Wahlen erlauben den Stimmberechtigten, eine Vertretungskörperschaft zu wählen. Über die konkrete Bildung einer (Koalitions-)Regierung können sie dabei unmittelbar ebenso wenig entscheiden, wie es nicht in ihrer Macht liegt, ein Kabinett infolge schwacher Regierungsleistungen während der Legislaturperiode auszutauschen. [...]

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2-2022 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2022