Implosion einer Krisenkanzlerin? Vom Ausfall des politischen Normalbetriebs
Es gehört zu den Routinen des Politikbetriebs nach einem Regierungswechsel: In den ersten Wochen nach der Wahl sind die Wähler nostalgisch, ein kleines bisschen scheinen sie ihre Wahl zu bereuen. Die Furcht vor Veränderung lässt die Vorgängerregierung noch einmal in mildem Licht leuchten. Dann aber, wenn die Neuen sich zurechtgerumpelt haben, der Koalitionsvertrag geschlossen ist und frische Energie durch die Chefetagen strömt, beginnt die Abrechnung.
Defizite und Versäumnisse werden der alten Regierung angelastet, Erfolge und Fortschritte buchen die Neuen dagegen beherzt für ihre Legislaturperiode. Altbundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) verzweifelte fast daran (»Das ist mein Aufschwung«), Altbundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erfährt es gerade jetzt. Erleben wir gerade die Implosion einer Krisenkanzlerin? Die Mängelanzeigen – der jammervolle Zustand der Bundeswehr, die Abhängigkeit von russischem Gas, zu enge Beziehungen mit China – häufen sich. Doch findet hier eine Implosion statt, bei der die Strukturen des Regierens durch einen gewaltigen Außendruck zerstört werden? Eher nicht. Denn erstens regiert Merkel nicht mehr. Zweitens bezieht sich die Kritik auf einzelne Felder politischen Handelns. Und drittens überdauert das Merkel-Prinzip ganz offensichtlich ihre Amtszeiten, trotz der politischen Katastrophe des Ukrainekriegs, trotz der »Zeitenwende«.
In Krisen regieren zu müssen, scheint auch das Schicksal des neuen Kanzlers Olaf Scholz (SPD) zu werden. Für den Koalitionsvertrag, die regulären politischen Ziele und Versprechen, bleibt daneben nur wenig Zeit. Auch vermeintliche Gewissheiten, feste Überzeugungen und politische Strategie gehen in Krisenzeiten über Bord. Die Ampel-Regierung macht das nicht anders als die Großen Koalitionen zuvor. Dass die Altkanzlerin an den Neuen öffentlich nichts auszusetzen hat, ist vielleicht auch diesem Umstand geschuldet.[1] Hier aber ist die eigentliche Implosion zu finden: Der politische Normalbetrieb fällt auch bei den Neuen aus. Das hat schwerwiegende Folgen: für das Verhältnis von Regierung und Parlament, für das Lösen struktureller Probleme, für die Widerstandsfähigkeit des Landes gegenüber künftigen Krisen.Vor allem ein Versäumnis wird den Regierungen unter Angela Merkel angelastet: Sie habe sich vom russischen Präsidenten Wladimir Putin in die Irre führen lassen, habe Deutschland in die Abhängigkeit von russischem Gas geführt, und damit den Ukrainekrieg wie auch den Wirtschaftskrieg Russlands gegen den Westen erst möglich gemacht.[2]
Im Nachhinein haben die Kritiker und Mahner Recht behalten. Selbst nach dem russischen Überfall auf die Krim im Jahr 2014 begleitete die Bundesregierung die Pläne zum Ausbau und Bau der Ostsee-Pipelines Nord Stream 1 und 2 freundlich, obwohl die US-Regierung und die Regierungschefs der osteuropäischen EU-Mitglieder energisch davor warnten. Das Verlangen des damaligen amerikanischen Präsidenten Donald Trump, Europa im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen mögen gefälligst amerikanisches Gas kaufen und dafür die Infrastruktur bereitstellen, wurde kühl zurückgewiesen. Russisches Gas war billiger zu haben, und bis zum Jahr 2022 war Russland seinen vertraglichen Liefer-Verpflichtungen auch stets nachgekommen.[3]
Zu verstehen ist diese Haltung nur vor dem Hintergrund der deutschen Energie-Innenpolitik nach 2011. Nach dem Atomunfall im japanischen Kernreaktor Fukushima im März 2011 dauerte es nur ein Wochenende, bis die Bundesregierung den zweiten Atomausstieg beschloss. In Windeseile wurde eine Ethik-Kommission berufen, deren Arbeit – wie auch die Beschlussfassung im Bundestag – nur symbolischen Charakter hatte. Die Mehrheit der Bevölkerung wollte den Ausstieg, und sie bekam ihn. Im Dezember 2022 sollen die verbliebenen drei Reaktoren eigentlich vom Netz gehen.[4]
Damit aber reduzierten sich die Optionen der heimischen Stromversorgung. Kohle und Erdgas sollten die Zeit überbrücken, bis genügend erneuerbare Energien, Stromtrassen und Energiespeicher für eine klimaneutrale und zuverlässige Stromproduktion zur Verfügung stehen würden. Gleichzeitig konkretisierten sich die Pläne, auch bei Mobilität und Wohnen Strom künftig als Hauptenergieträger zu nutzen – doch der politische Wille, die Erneuerbaren für diese weitere Stufe der Stromwende weiter stark auszubauen, erlahmte.
Ein zwei- bis dreifach höherer Stromverbrauch als bisher? Die Voraussetzungen dafür fehlen bis heute. Immer schwieriger wurde es, neue Windkraftanlagen zu genehmigen und ans Netz zu bringen. Immer aussichtsloser erschienen die Pläne, Höchstspannungstrassen zwischen Nord- und Süddeutschland zu bauen, um den Windstrom dahin zu bringen, wo er gebraucht wird. Immer höher wuchsen die Umlagen auf, mit der die Stromkunden die garantierten Einspeisepreise, die notwendigen Investitionen in Reservekapazitäten und die Netzstabilität finanzierten. Und: Zu billig war das russische Gas, um die teureren Alternativen und die notwendige Infra-struktur voranzutreiben und durchzusetzen.
Der Klimawandel beschleunigte sich seit der Jahrtausendwende und wurde auch in Mitteleuropa spürbar. Als Umweltministerin unter Helmut Kohl hatte Angela Merkel die Kyoto-Konferenz 1997 vorbereitet, auf der die Industrieländer sich zum ersten Mal darauf verständigten, den CO2-Ausstoß zu reduzieren. Als Kanzlerin aber wurde sie selbst zur Getriebenen. Mit dem Atomausstieg legte sich die Bundesregierung wieder auf das Verbrennen fossiler Energien fest – solange, bis sich die Meinung der Wähler auch zu diesem Thema änderte.
Eine Kohlekommission (»Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung«) sollte nach der Bundestagswahl im Jahr 2017 die Bedingungen für einen Ausstieg aus der Kohle formulieren – denn Kohle setzt bei der Verstromung besonders viele Klimagase frei. Die Expertengruppe legte 2019 ihre Empfehlung vor,[5] der sich die Bundesregierung anschloss: Bis zum Jahr 2038 soll Deutschland keinen Kohlestrom mehr herstellen, nach Möglichkeit soll der Ausstieg bis zum Jahr 2030 gelingen. Dieses Ziel formulierte die Nachfolgeregierung in ihrem Koalitionsvertrag.
Damit aber blieb als »Brückentechnologie« zum klimaneutralen Zeitalter nur noch Erdgas übrig. Deutschland wurde einerseits abhängig von Exporteuren wie Russland, andererseits musste es sich auf Stromimporte aus Frankreich (Atomstrom) und Osteuropa (Kohle und Atom) verlassen können, wenn es eng wurde. Die Mehrheit der Bevölkerung wollte den Kohleausstieg, und sie bekam ihn, jedenfalls für Strom aus Kraftwerken im eigenen Land. Das reichte ihr.
Auch in der Politik arrangierte man sich zügig mit dem Unvollkommenen und wandte sich einer neuen Krise zu, der Corona-Pandemie. Die Ressourcen für die Energie- und Klimawende zu schaffen, rückte in den Hintergrund.
Der Zustand der Bundeswehr ist das zweite Beispiel für die Schwächen des Modells Merkel, die weit über die Amtszeit der Kanzlerin hinausreichen. Als der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg bei der Haushaltsklausur des Bundeskabinetts im August 2010 erklärte, ein weiterer Milliardensparbetrag sei aus der Armee nur herauszuquetschen, wenn man die Wehrpflicht abschaffe, war er sich eigentlich sicher, damit das schärfste Argument gegen das Sparen genutzt zu haben. Wenige Stunden später wurde ihm klar, dass er sich getäuscht hatte.
Nur die Mahnung der Bundeskanzlerin, man könne die Wehrpflicht nicht mal eben an einem Nachmittag ad acta legen, bewahrte das Kabinett davor, vollendete Tatsachen zu schaffen. Die Begeisterung über das Abschöpfen der Friedensdividende und das neue pazifistische Regierungsprojekt ausgerechnet der Konservativen kannte kaum Grenzen. Allein die CSU zierte sich. Doch am Ende reiste der schneidige Verteidigungsminister, selbst CSU-Politiker und Reserveoffizier der Gebirgsjäger, mit dem Auftrag in den Bendlerblock zurück, die Voraussetzungen für das Aussetzen der Wehrpflicht zu prüfen. Eine Expertenkommission (sic!) tagte, die Wehrpflicht fiel kurze Zeit später.[6] Die Bundeswehr aber verschwand nach und nach aus dem öffentlichen Bewusstsein. Ob sie Geld hatte oder nicht, verteidigungsfähig war oder nicht, interessierte nur noch die Soldaten selbst. Lediglich die gelegentlichen Nachrichten über Gefallene im Bundeswehreinsatz in Afghanistan lösten noch Betroffenheit aus. Der jahrelange Sanierungsprozess des Segelschulschiffs Gorch Fock hingegen taugte nur als Symbol für eine aussichtslos ineffiziente und aufgeriebene Streitmacht.
Anlass, die Bundeswehr zu reformieren, sah die Bundesregierung darin nicht mehr. Nicht einmal das Versprechen an die Bündnispartner in der Nato, zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für die militärische Einsatzfähigkeit auszugeben, musste ernst genommen werden. Der SPD-Wahlkampfs logan »Lieber sechs Prozent mehr für Bildung als zwei Prozent für Rüstung«[7] aus dem Jahr 2017 machte deutlich, dass keineswegs nur die Liebe von CDU und CSU zur Bundeswehr erkaltet war. Sozialdemokraten und Liberale – die Grünen ohnehin – waren derselben Auffassung.
Auch hier war es erst der Überfall Russlands auf die Ukraine, der diese Politik als kurzsichtig und hochriskant entlarvte. Dass binnen weniger Tage ein Hundert Milliarden-Euro-Sondervermögen in den Bundeshaushalt eingestellt wurde, zeigt, dass zwar die Politik der Ära Merkel entschlossen korrigiert wurde. Das Merkel’sche Regierungsprinzip aber – in Krisen entschlossen zu handeln, die Sache danach zügig zu den Akten zu legen – scheint sich fortzusetzen. Schon im Sommer 2022 war keine Rede mehr davon, das Sondervermögen zusätzlich zu den zwei Prozent Militärausgaben auszuloben.
Die Methode der Kanzlerin, nur die Probleme zu lösen, die unmittelbar gelöst werden müssen, und dabei sehr genau auf die Meinungsumfragen und Stimmungslagen der Bevölkerung zu schauen, offenbarte ihre Schattenseiten erst, nachdem sie ihr Amt verlassen hatte. In dem Bemühen, die Energieversorgung möglichst nach den Wünschen der Bevölkerungsmehrheit zu gestalten und dennoch bezahlbaren Strom zu liefern, hatte sie ihre eigenen Bedenken gegen die Zuverlässigkeit des russischen Präsidenten hintangestellt. Im nachlassenden Engagement für die Energiewende, als andere Krisen (Flüchtende, Corona) zu lösen waren, zeigt sich die grundlegende Schwäche dieses Politikmodells. Die jeweils akute Krise wird gut gemanagt, doch widerstandsfähiger gegen neue Schocks wird das Land nicht.
Im Gegenteil. Im Handlungsdruck neuer Krisen lässt das Engagement für die alten Themen zuverlässig nach. So gibt es bis heute keinen Einlagensicherungsfonds für alle Banken in Europa – die Banken scheinen ja stabil genug zu sein, um neue Krisen aus eigener Kraft zu überstehen. Ein einheitliches europäisches Regime für die Unterbringung und Verteilung von Asylbewerbern und Flüchtlingen ist ebenfalls nicht in Sicht. Die Impfpflicht gegen neue Corona-Wellen ist ebenso in den politischen Schlagschatten der Ukraine-Krise geraten wie die Aufgabe, Deutschlands Katastrophenschutz wenigstens so weit zu ertüchtigen, dass bei neuen Unwettern die Bevölkerung zuverlässig gewarnt werden kann.
Dennoch sieht Merkel für sich keinen Anlass, ihre Russland-Politik im Nachhinein zu bereuen – so wie es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier oder der ehemalige Wirtschafts- und Außenminister Sigmar Gabriel taten. »Wenn ich mir etwas Zeit nehme, um zu meiner Meinung zu kommen, muss ich hinterher nicht damit hadern«, sagte sie 2013 in einem öffentlichen Gespräch mit der Zeitschrift Brigitte.[8] So ist es geblieben.
In Merkels Politikverständnis galt es ohnehin, Entscheidungen und Einstellungen ständig mit der Realität und deren Volten abzugleichen. War sie zum Amtsantritt noch eine entschiedene Befürworterin der Kernenergie (sie setzte den Wiedereinstieg in der Koalition mit der FDP durch), wandelte sie sich nach Fukushima zu einer entschiedenen Gegnerin. Verteidigte sie als Frauenministerin, Oppositionsführerin und Kanzlerin über lange Jahre die Ehe als eine Angelegenheit zwischen Mann und Frau, machte sie 2017 völlig überraschend den Weg zu einer Ehe mit allen Rechten und Pflichten auch für homosexuelle Paare frei. Setzte sie sich vehement (»nicht zu meinen Lebzeiten«) gegen Gemeinschaftsschulden im Euroraum ein, so wurde dieser Glaubenssatz in der Corona-Pandemie hinfällig. Die Krisen diktierten die Agenda. An die Stelle von Parteiprogrammen, Koalitionsverträgen und Grundsätzen trat das Versprechen: »Wenn Ihr uns wählt, werdet Ihr gut regiert«. Oder, um es mit dem früheren Vizekanzler Franz Müntefering (SPD), bezogen auf die Ära Merkel, auszudrücken: »Wenn man mit Angela Merkel in ein Flugzeug steigt, weiß man, dass man sicher landen wird. Man weiß nur nicht, wo.«
Dieses Politikverständnis hat die Altbundeskanzlerin ganz offensichtlich nicht exklusiv. Auch ihr Nachfolger und sein Kabinett müssen nach demselben Prinzip verfahren. Kaum im Amt, überfiel Russland die Ukraine – und aus der Coronakrise wurde die Energiekrise.
Im permanenten Krisenmodus ergeben sich einige Veränderungen im politischen System, die von größerer Bedeutung sind als die glückliche oder unglückliche Hand in einer akuten Krise:
1. Die Exekutive gewinnt an Bedeutung, die Judikative kontrolliert, die Legislative verliert. Die Krise ist die »Stunde der Exekutive«. Die Regierung managt den Notstand und legt ihre Beschlüsse dem Parlament zur Zustimmung vor. Das aber hat kaum eine Wahl. Wegen der Eilbedürftigkeit der Entscheidungen fällt die Diskussion in den Fraktionen und Ausschüssen knapper aus als notwendig. In der Finanzkrise wurden wesentliche Entscheidungen in vertraulichen Sonderrunden gefasst, um die Märkte nicht zu beunruhigen, in der Corona-Pandemie wurden die Bund-Länder-Runden der Regierungschefs zum entscheidenden Gremium, die Länder-Exekutive fasste die Beschlüsse. Nein zu sagen, war zwar theoretisch noch möglich, kam aber nur selten infrage. Der Bundestag und die Länderparlamente traten in den Hintergrund. In der Ukraine-Notlage rücken Regierung und gewählte Parlamentarier zusammen, jedenfalls in der ersten Phase. Die Regierung sitzt am Steuer, der Bundestag im Fond.[9] Das Beispiel der Impfpflicht zeigt: Solange die Exekutive entscheiden will, lässt sich die Illusion der Gewaltenteilung aufrechterhalten. Weigert sich die Regierung aber, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzuschlagen, hat auch das Parlament nicht mehr die Kraft zu entscheiden, ob es einen Entwurf gibt oder nicht. Das schwächt beide.
Dazu kommt: Immer mehr Beschlüsse werden mit der berechtigten Erwartung getroffen, dass sie am Ende vom Verfassungsgericht beanstandet werden. In vielen Krisen müssen Exekutive und Legislative juristisches Neuland betreten, daher ist es wenig erstaunlich, dass nicht alles Bestand hat. Zunehmend aber wird dieser Umstand Teil des politischen Kalküls: Man beschließt Ad-hoc-Maßnahmen, von denen man weiß, dass sie nicht verfassungsfest sind – in der Hoffnung, dass der Grund für diese Maßnahmen bis zur Entscheidung entfallen ist und die Angelegenheit begraben werden kann.
2. Das Momentum bestimmt die Agenda. Sind weitreichende politische Entscheidungen und Reformen nur noch in Krisen möglich, bestimmt der Zufall, welche Reform am Ende durchgesetzt wird und was ewig im Politikbetrieb stecken bleibt (die Rentenreform!). So kam die Eurozone erst nach der Finanzkrise zu einer funktionierenden einheitlichen Bankenaufsicht. Ein Einwanderungsgesetz wurde erst nach der Migrationskrise der Jahre 2015 und 2016 möglich, die entscheidenden Hemmnisse für den Ausbau der Windkraft fielen erst im Jahr 2022. Das relativiert die Entscheidung des Souveräns bei der Bundestagswahl deutlich: Entscheidet die Wählerin sich für eine Partei, weil sie deren Programm für richtig hält und ihr zutraut, in einer Regierungskoalition wenigstens einen Teil davon in die politische Wirklichkeit zu bringen, wird sie am Ende doch damit leben müssen, sich vor allem anderen für ein Personaltableau entschieden zu haben. In der derzeitigen Bundesregierung sind Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck die markantesten Beispiele dafür. Die Grünen wurden gewählt, weil man ihnen am ehesten einen dynamischen Weg in eine klimaneutrale und pazifistische Gesellschaft im 21. Jahrhundert zutraute. Nun aber sind es dieselben Politiker, die weltweit Erdgas einkaufen, Kohlekraftwerke wieder ans Netz nehmen und den Waffenexport in die Ukraine befürworten. Auch bei ihnen tritt die Krise vor die Überzeugung. Was das für künftige Wahlen, Koalitionsverhandlungen und das Parteiensystem bedeutet, ist noch nicht zu ermessen. Zu vermuten ist, dass eine noch stärkere Personalisierung eintritt, nach dem Motto »Sie kennen mich«.
3. Neue Krisen machen das Land noch anfälliger. Weil der politische Normalbetrieb in Zeiten der Krise weitgehend pausiert, werden akute Themen zwar adressiert, aber nicht mehr durch politische Entscheidungs- und Kompromissfindung hinterlegt. Gerade die Behörden und die Sicherheitsorgane haben darunter zu leiden. Die Tiefe der Krisen geht auch darauf zurück, dass Polizei, Bundeswehr, Bundes- und Landesämter unfähig sind, etwas anderes als den Normalfall zu beherrschen. In der Arbeitsmarktkrise der frühen 2000er Jahre fiel das zum ersten Mal auf. Die damalige Bundesanstalt für Arbeit wurde ihrer Arbeit nicht mehr Herr und begann in großem Stil, Vermittlungszahlen zu fälschen. In der Finanz- und Eurokrise wurde deutlich, dass die Bankenaufsicht geschlampt hatte. In der Migrationskrise brach das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zusammen, in der Corona-Pandemie waren Gesundheitsämter nicht in der Lage, ihre Arbeit zuverlässig zu erledigen. Dass ausgerechnet das Bundesamt für Katastrophenschutz beim »nationalen Alarmtag«, einem Probelauf, auf Grund lief, ist da nur eine Fußnote.
Nicht das Krisenmanagement ist im Rückblick auf die Ära Merkel zu kritisieren. Der politische Normalbetrieb ist implodiert. Notwendige Korrekturen sind im ständig neuen Krisenmanagement nicht vorgenommen worden. Die Konsequenzen der Ad-hoc-Entscheidungen wurden im Parlaments- und Regierungsalltag systematisch vernachlässigt. Das ist das wirkliche Versäumnis der Ära Merkel – und es scheint sich im neuen Kabinett fortzusetzen.
[2] Vgl. zum Beispiel Bundeswirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck am 07.07.2022 im Deutschen Bundestag, Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht (vorläufige Fassung), 47. Sitzung, tiny.one/indes221w2, S. 4821 f.
[3] Vgl. Daniela Schwarzer, Final Call, Wie Europa sich zwischen China und den USA behaupten kann, Frankfurt a. M. 2021, S. 70 ff.
[4] Diese und die folgenden Absätze beziehen sich im Wesentlichen auf Ursula Weidenfeld, Die Kanzlerin. Bilanz einer Epoche, Berlin 2021.
[5] Vgl. Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung, Abschlussbericht, hg. v. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Frankfurt a. M. 2019, tiny.one/indes221w3.
[6] Vgl. Bericht der Strukturkommission der Bundeswehr, Vom Einsatz her denken – Konzentration, Flexibilität, Effizienz, Oktober 2010, tiny.one/in-des221w4.
[7] Zitiert nach Ulf von Krause, Zwei-Prozent-Ziel und Bundeswehr. Zur Diskussion um den Verteidigungshaushalt, Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Arbeitspapier Sicherheitspolitik 23/2018, tiny.one/indes221w5.
[8] Zitiert nach Pressemitteilung Gruner + Jahr vom 02.05.2013, tiny.one/indes221w6.
[9] Anna-Bettina Kaiser, Was macht »Die Stunde der Exekutive« mit dem Parlament?, Vortrag am 09.12.2020 bei der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen, tiny.one/indes221w7
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2-2022 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2022