Editorial Heft 1-2-2022
»Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht«, kommentierte Außenministerin Annalena Baerbock bereits wenige Stunden, nachdem der russische Präsident Vladimir Putin am 24. Februar 2022 seinen Angriffskrieg auf die Ukraine gestartet hatte. Berühmter wurde eine ähnliche Formel aus der Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz bei der drei Tage später anberaumten ersten sonntäglichen Sondersitzung des Bundestags überhaupt: »Wir erleben eine ›Zeitenwende‹. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.«
Doch was änderte sich tatsächlich, was blieb indes gleich? Und ist die Rede von der Zeitenwende in Abwägung der Wandlungen und Kontinuitäten überhaupt berechtigt? Oder droht dieser Begriff schon jetzt zu einem zwar populären, aber wenig gehaltvollen Schlagwort zu werden, das als Überraschung verpackt, was doch eigentlich hätte vorausgesehen werden können, gar müssen? Dies zu eruieren, möchte die neue Ausgabe der INDES versuchen.
In guter INDES-Tradition beginnt das Heft gewissermaßen mit einem Widerspruch: Die Scholz’sche Zeitenwende ist demnach gar kein fundamentaler Strukturbruch, die wesentlich wichtigeren Verschiebungen, die »eigentlichen Zeitenwenden« finden anderswo statt, spielen sich subtiler ab. Sodann widmen wir uns den einschneidenden Ereignissen, die 2022 unzweifelhaft – ob man sie nun als Zeitenwende tituliert oder nicht – prägen. Wie wirken sie sich auf internationaler Ebene aus, was bedeuten sie für das Verhältnis zu Russland, was implizieren sie für das Verhältnis zu den USA und zu China, wie übersetzen sie sich etwa in Nordeuropa, wie wirken sie sich auf das europäische Asylsystem aus? Was bedeuten die gegenwärtigen Entwicklungen in und für Deutschland, für unsere Außen- und Sicherheitspolitik, für unsere Energie- und Klimapolitik, für die neue Ampel-Regierung, für die Seelenlage der Bevölkerung? Wie reagiert die sogenannte Kriegsgeneration auf Szenen von Flucht und Vertreibung, welche (kollektiven) Traumata werden möglicherweise reaktiviert? Welche Heldenbilder entstehen in unseren Köpfen?
Am einschneidendsten ist die Zäsur fraglos in der Ukraine. Die Fernsehbilder zerschossener Städte, beschossener Soldaten, erschossener Zivilisten sind leider allzu bekannt. Sie schmerzen noch immer, aber sie schmerzen immer weniger – und gerade das schmerzt. Tempora mutantur, nos et mutamur in illis – Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen. Als Quartalsschrift können wir mit den täglichen Frontverschiebungen naturgemäß nicht Schritt halten, aber vielleicht Schlaglichter auf bislang unterbeleuchtete Aspekte werfen: die Dimension des Cyberkriegs, den politischen Zustand des Landes vor dem Krieg, unter einem Präsidenten, der einen solchen zuvor im Fernsehen mimte.
Wenn es um Zeitenwenden geht, gilt es überdies auch lange Linien zu ziehen. So fragen wir danach, in welchem Verhältnis die Zeitenwende des Jahres 2022 steht zum Ende des Kalten Kriegs und zum Zusammenbruch der Sowjetunion, die Putin nun in neuer Form wiedererstehen zu lassen entschieden scheint. Wir fragen, welche der aktuellen Entwicklungen schon in den Jahren 1989–1992 ihren Anfang nahmen und inwiefern sich die gegenwärtige Zeitenwende von der damaligen Wendezeit unterscheidet. Wir fragen danach, in welches Licht nun nachträglich die Ära Merkel getaucht wird, in der die Wehrpflicht ausgesetzt und die Abhängigkeit von russischem Gas vergrößert wurde. Wir fragen danach, inwiefern Willy Brandts neue Ostpolitik den Blick der deutschen Sozialdemokratie auf Russland verklärt hat. Und wir lassen die parlamentarische Wende Revue passieren, die diese neue Ostpolitik erst ermöglichte – das (gescheiterte) konstruktive Misstrauensvotum gegen Willy Brandt 1972, ebenso wie das erfolgreiche Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt zehn Jahre später, die sogenannte Bonner Wende. Wir blicken gar zurück ins 14. Jahrhundert, als Dante die Göttliche Komödie schrieb und in diesem Monumentalwerk persönliches Leid und Schicksal der Menschheit verknüpfte, gewissermaßen eine Zeitenwende literarisch verarbeitete.
Monumentale Umbrüche drohen immer auch, alle anderen, kleineren, aber keineswegs unbedeutenden politischen und gesellschaftlichen Marksteine gewissermaßen zu verschütten. Und natürlich gibt es nicht nur die eine Zeitenwende – auch wenn sie gerade in aller Munde ist. Einige solcher übersehenen Zeitenwenden versuchen wir in diesem Heft wieder freizulegen, und betrachten somit auch aktuelle Veränderungen im französischen Parteiensystem, die Lage im Post-Johnson-Großbritannien und den Zustand der deutschen Linkspartei.
Ob 2022 nun als das »Jahr der Zeitenwende« in die Geschichte eingehen wird, dass wagen wir nicht zu prophezeien. Für INDES allerdings trifft es in gewisser Hinsicht zu: Mit dem vorliegenden Doppelheft beginnt zumindest für uns eine neue Ära, mit neualter Redaktion, an neuem Erscheinungsort, unter neuem Herausgeber. Wir freuen uns, dass INDES fortbesteht, und hoffen, unseren Leser:innen geht es ebenso.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2-2022 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2022