Auf der Suche nach einer neuen Weltordnung Konfrontation, Konkurrenz, Kooperation

Von Sigmar Gabriel

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat nicht nur Folgen für die Europäische Union und die Sicherheits- und Verteidigungspolitik unseres Landes. Vielmehr ist dieser Krieg der sichtbarste und auch der bislang tragischste Beleg dafür, dass sich die Welt in einem dramatischen Wandel befindet: Die alte Weltordnung, die von den demokratischen Industriestaaten geprägte »Wilsonian Era«, verliert ihre prägende Kraft, und mit ihr endet auch die Dominanz Europas in der Welt. Immerhin gut 600 Jahre lange war unser Kontinent – im Guten wie im Schlechten – Ursprungsort weltweiter Entwicklungen. Europa war Ausgangspunkt der Entdeckung Amerikas wie auch der Sklaverei und des Kolonialismus, und die Philosophie der Aufklärung hat hier ihren Ursprung ebenso wie zwei Weltkriege, Völkermord und der Holocaust. Nicht mehr der Atlantik – und die enge Verbindung Europas mit dem amerikanischen Kontinent – bildet das Gravitationszentrum der Welt, sondern mehr und mehr der Indo-Pazifik.

Länder wie China, Indien oder die Staaten Afrikas waren an der Entstehung der alten Weltordnung in der Folge zweier Weltkriege in Europa nicht beteiligt. Die europäischen Mächte und die USA nannten diese Regionen »Dritte Welt« und blickten bestenfalls mit einem paternalistischen Blick auf sie herab. Längst erheben diese Länder den Anspruch, weit mehr zu sein als ein günstiger Marktplatz für die ökonomischen Interessen ihrer früheren Kolonialherren. Und das zu Recht, denn allein die Nationen des Indo-Pazifik repräsentieren rund sechzig Prozent der Weltbevölkerung und sechzig Prozent des Weltsozialprodukts; und rund zwei Drittel des globalen wirtschaftlichen Wachstums sind dieser Region zuzurechnen. Und auch in Afrika, wo insbesondere die ehemaligen europäischen Kolonialmächte großen Anteil an der gescheiterten Dekolonisation hatten, zeigen sich seit der Bildung der Freihandelszone erste Ansätze eines geopolitischen Selbstbewusstseins. [...]

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2-2022 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2022