Ich feier’ keinen Gottesdienst mehr! Der Pfarrer und die Revolution

Von Carsten Linden

»Ich feier’ keinen Gottesdienst mehr!« Das war die Mitteilung eines evangelischen Bremer Gemeindepastors bei einer Silvesterfeier mit Kollegen auf Langeoog im Jahr 1967.[1] Bei diesen Worten in Sektlaune sollte es nicht bleiben. Tatsächlich schaffte er im Mai 1968 den Sonntagsgottesdienst in seiner Kirchengemeinde ab, wodurch er (west-)deutschlandweit bekannt wurde.
Der Name dieses Bremer Pastors war Wolfgang Schiesches, und er war ein typischer 68er-Pastor,[2] wie nicht zuletzt die Tatsache zeigt, dass die von ihm initiierte eigenmächtige Einstellung des Gottesdienstes seiner Kirchengemeinde auf den Mai 1968 datiert. Dass er diesen Schritt innerhalb der Bremer Landeskirche unternahm, die schon damals als die liberalste aller deutschen Landeskirchen galt, dürfte erklären, warum erst im Herbst desselben Jahres ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet wurde,[3] das zudem im Sande verlief. Genau diese lässige Reaktion »von oben« bestärkte Schiesches freilich nur darin, seinen Kurs beizubehalten.[4]

[1] So ein Teilnehmer der Silvesterfeier, Pastor i. R. Harald Weinacht, im Interview mit dem Autor am 01.04.2019.
[2] Vgl. Schiesches’ berufliche Kurzbiografie in Hartwig Ammann, Bremer Pfarrerbuch. Die Pastoren der Bremischen Evangelischen Kirche seit der Reformation. Bd. 2, Bremen 1996, S. 152.
[3] Vgl. Vgl. Wolfgang Schiesches, Ein Lachen wird es sein, Bremen 1987, S. 125.
[4] In anderen Landeskirchen wurde energischer durchgegriffen, etwa bei den typischen 68er-Pastoren Michael Schmidt, Oldenburger Landeskirche, und Edda Groth, Schleswig-Holsteinische Landeskirche (heute Nordkirche).

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2-2022 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2022