Welche Zeitenwende? Zur Kontinuität einer vermeintlich neuen Realität

Von Ralph Rotte

»Zum dritten Mal seit dem Ende der 1980er Jahre steht die Welt vor einer Zeitenwende: Gab es mit dem Fall der Berliner Mauer für ein Jahrzehnt lang Hoffnung auf eine liberal geprägte Weltfriedensordnung, so brachte der 11. September 2001 die Ernüchterung. Gegenüber terroristischen Attentaten dschihadistischer Gruppen war sogar die zu dieser Zeit unbestrittene Weltmacht USA verwundbar. Der tektonische Wandel im Zuge des russischen Angriffskriegs macht klar: Die Rivalität zwischen den Großmächten USA, Russland und China der 2010er Jahre ist in eine unmittelbare Konfrontation übergegangen.«[1]

Die solcherart im diesjährigen Friedensgutachten der großen deutschen Friedensforschungsinstitute zu findende Verwendung des seit Scholz’ Bundestagsrede vielzitierten Begriffs der »Zeitenwende« vermittelt zwei zentrale Interpretationen der russischen Aggression gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022: Offenbar gibt es seitdem erstens eine fundamental neue und völlig überraschend aufgetretene weltpolitische Lage, das heißt, die Strukturen der internationalen Ordnung insgesamt haben sich mit einem Schlag radikal verändert. Zweitens folgt aus dieser grundlegenden Herausforderung eine ebenso grundsätzliche Veränderung der Wahrnehmung der sicherheits- und verteidigungspolitischen Umwelt und damit des nationalen und internationalen (vor allem europäischen oder westlichen) Handelns gegenüber Russland, aber auch gegenüber anderen autoritären und offensiven Akteuren, wie etwa der Volksrepublik China.

Die Realität des russischen Revisionismus...

Betrachten wir den ersten Aspekt: Kam der militärische Angriff auf die Ukraine tatsächlich so überraschend? Gehen wir von der tatsächlichen Entwicklung der russischen Politik seit dem Amtsantritt Vladimir Putins als Präsident 1999/2000 aus, so sprechen die Zeichen zunehmender Aggressivität gegenüber der vermeintlichen Bedrohung durch den Westen, insbesondere die USA und die NATO, bekanntlich eine ganz andere Sprache. Man erinnere sich: Schon ab 1999 stellte Putin im Zweiten Tschetschenienkrieg (bis 2009) seine grundsätzliche Bereitschaft, militärische Gewalt, auch exzessiver Art, zur Erreichung seiner Ziele einzusetzen, zum ersten Mal unter Beweis. 2007 hielt er seine gegen die NATO gerichtete Brandrede auf der Münchner Sicherheitskonferenz. 2008 folgte die Intervention in Georgien, 2014 auf der Krim und im Donbass. 2015 wurden russische Truppen nach Syrien entsandt und sorgten durch ihre brutale Kriegsführung für die Rettung des Assad-Regimes; seit 2017/18 werden – offenbar mit dem Placet der russischen Führung – vermehrt russische Söldner, insbesondere der Wagner Group, im Ausland aktiv, etwa in Libyen, in der Zentralafrikanischen Republik, im Sudan oder in Mali. 2022 erfolgte dann (offiziell auf Bitte des kasachischen Präsidenten hin) die Intervention in Kasachstan im Rahmen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit. Hinzu kommen die diversen Attentate auf Oppositionelle, auch im Ausland, sowie die Remilitarisierung der russischen Gesellschaft durch die Wiedereinführung der Wehrerziehung an Schulen (2006) und die Gründung der paramilitärischen »Jungen Armee« (Junarmija) für Acht- bis Achtzehnjährige (2016), verbunden mit einer demonstrativen Forcierung der Modernisierung der russischen Streitkräfte seit 2008 und häufigen Verweisen auf die russischen nuklearen Fähigkeiten.[2] Verknüpft wird das Ganze mit einer Geschichtspolitik, die nicht zuletzt die machtpolitischen Ansprüche und militärischen Erfolge der russischen Vergangenheit, insbesondere im Großen Vaterländischen Krieg, glorifiziert.[3] Diese Aufzählung macht deutlich, dass Vorbereitung und Einsatz militärischer Gewalt seit Jahrzehnten zum Standardrepertoire russischer Politik unter Putin gehören und keineswegs etwas Neues sind.[4]
Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass es seit 1990 tatsächlich nur maximal sechs Jahre am Stück keinen Krieg in Europa gab, und zwar zwischen
dem Georgien-Krieg 2008 und der russischen Intervention auf der Krim und im Donbass 2014. Sieht man von innerstaatlichen Kriegen wie in Tschetschenien ab und berücksichtigt nur zwischenstaatliche Gewaltkonflikte und internationalisierte Bürgerkriege (wie etwa diejenigen infolge des Staatszerfalls Jugoslawiens), so erhöht sich diese Periode auf die neun Jahre zwischen dem Kosovo-Krieg 1999 und dem Georgien-Krieg. Offensichtlich war die europäische Geschichte nach 1990 faktisch keineswegs die einer neuen dauerhaften Friedensordnung:

»Der Krieg in Europa ist [...] kein singuläres Ereignis, das die alte Ordnung plötzlich und unerwartet umstößt. Er wirkt eher wie ein Brandbeschleuniger für eine Neuordnung Europas und der Welt, die sich schon lange angekündigt hat.«
[5]

...und seine Wahrnehmung

Anders sieht es aus, wenn man die Ebene der Perzeption der russischen Außenpolitik und der europäischen Ordnung nach dem Kalten Krieg betrachtet, das heißt deren Interpretation durch Öffentlichkeit, politische Akteure und auch große Teile der Wissenschaft. In den internationalen Security Studies gibt es den Ansatz der »Securitization«, wie er von der sogenannten Kopenhagener Schule entwickelt wurde. Danach sind sicherheitspolitische Herausforderungen keine objektiven Tatsachen, wie dies etwa der Neorealismus unterstellt, sondern das Ergebnis von Diskursen zwischen Eliten und Öffentlichkeit, also sozial-kommunikativ konstruierte Phänomene, die erst durch mehr oder weniger konsensuale Perzeption als solche handlungsrelevant werden.[6] Diese theoretische Perspektive scheint einen guten Erklärungsansatz für die faktische Ausblendung der angeführten Hinweise auf einen zunehmend
aggressiven und gewaltbereiten Revisionismus Russlands in Westeuropa und vor allem in Deutschland zu bieten. Denn ganz offensichtlich nahmen bis Februar dieses Jahres viele an, dass die Aggressivität der russischen Politik bei der Bewahrung der russischen Dominanz in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und der Wiederherstellung russischer Weltgeltung den eigentlichen alten Kontinent nicht betreffen würde und lediglich außereuropäische Gebiete oder allenfalls die europäische Peripherie wie Georgien berühre. Man denke an das oft zu hörende Diktum, der Krieg sei nach Europa zurückgekehrt, was einerseits falsch ist, weil er offensichtlich nie wirklich verschwunden war (siehe oben), und andererseits einen deutlichen Anflug eurozentrischer Überheblichkeit verrät (offenbar ist Krieg in anderen, wohl weniger »zivilisierten« Weltteilen ganz normal).
Neben der Hoffnung auf eine Verstetigung der Errungenschaften von 1990 mit der Überwindung der Blockkonfrontation und eine dauerhafte Realisierung einer »Friedensdividende« aufgrund wachsender ökonomischer Interdependenz mit Russland im Sinne des »Liberalen Friedens« spielt im westeuropäischen Kontext wohl auch eine gewisse Arroganz gegenüber den neuen osteuropäischen Mitgliedern von NATO und EU wie Polen und den baltischen Staaten mit, deren wiederholte Warnungen vor einem revisionistischen Russland geflissentlich ignoriert wurden. Gerade im deutschen Fall gab es offenbar auch die Überzeugung, Sonderbeziehungen zu Russland zu haben, sei es wegen der eigenen wirtschaftlichen Bedeutung, sei es aufgrund einer besonderen historischen Verbundenheit. Dabei wurde Letztere wohl aus verschiedenen Quellen gespeist: von einer links wie rechts verorteten Skepsis gegenüber dem Westen und insbesondere den USA über das Vermächtnis des »Unternehmens Barbarossa« bis hin zur Anfang des 20. Jahrhunderts verbreiteten Vorstellung, Deutschland bilde »zwischen der westeuropäischen und der osteuropäischen Kultur einen eigenen, dritten Kulturraum«[7] − welche stark an russische Diskurse von den »Slawophilen« des 19. Jahrhunderts bis zu den »Eurasiern« von heute erinnert.[8] Nicht zu Unrecht titelte die Neue Zürcher Zeitung am 2. Juli 2022 fast ironisch: »Deutschland entdeckt den Westen«.

Die Rolle der Wissenschaft

Dass die Zeitenwende auch im (sozial-)wissenschaftlichen Kontext für die meisten so überraschend kam, hat möglicherweise auch damit zu tun, dass in der deutschen Universitäts- und Forschungslandschaft der Bereich klassischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Rahmen der Disziplin der Internationalen Beziehungen (IB) nach 1990 weitgehend zugunsten der Friedensforschung verschwunden ist. Bereits seit den 1970er Jahren

»hat die Friedensforschung einen starken Einfluss auf die IB, insbesondere in Deutschland, Skandinavien und einigen Ländern des globalen Südens, mit deutlichen Abstrichen auch in Großbritannien und den USA, gehabt. Beiträge und Personen aus der Friedensforschung waren zentral für die Erneuerung der IB seit den 1970er Jahren, sie hat den Paradigmenwechsel in den IB von Spielarten des Realismus zu Ausformungen des Idealismus nachhaltig befördert.«[9]

Gerade im deutschen Kontext haben sich die Internationalen Beziehungen immer weiter vom Modell eines anarchischen internationalen Systems entfernt und einer »Vorstellung einer globalen Ordnung, die in normative Strukturen eingebettet ist«,[10] angenähert. Die dabei bestehenden deutlichen Unterschiede zur US-amerikanischen oder britischen Perspektive Internationaler Beziehungen werden unter anderem an der weiterhin zentralen Rolle von Feldern wie Strategic Studies, War Studies, Military History oder Defence Studies an angelsächsischen Universitäten deutlich – Ausrichtungen, die in Deutschland mit wenigen Ausnahmen nicht zu finden sind. Hierzulande ist die wissenschaftliche Befassung mit Krieg und Militär nicht zuletzt aufgrund der deutschen Geschichte weitgehend verpönt, ebenso wie die damit verbundenen, vor allem machtpolitisch orientierten Theorierichtungen der (neo-)realistischen Tradition der IB: »Ein Krieg in Europa galt als dystopische Phantasie von Ewiggestrigen.«[11]
Dass infolge einer weitgehenden Ausblendung von Krieg als Thema der Sozialwissenschaften[12] das tatsächliche Auftreten militärischer Gewalt großen Stils überraschend erscheint, nimmt wenig wunder. Schlaglichtartig sei im Gegensatz dazu etwa auf den US-amerikanischen Neorealisten John Mearsheimer verwiesen, der bereits 1993 die Ukraine hellsichtig davor warnte, ihre von der untergegangenen UdSSR übernommenen Nuklearwaffen aufzugeben, und hierzu unter anderem anführte:

»[M]any Russians would change the present border with Ukraine, and some even reject the idea of an independent Ukraine. Senior Russian officials [...] have recently been describing Ukraine’s independence as a ›transitional‹ phenomenon [...].«[13]

Die Ambivalente Reaktion auf den »Ukraine-Shock«

Wenden wir uns dem zweiten Aspekt der »Zeitenwende« zu, dem fundamentalen Kurswechsel der (westlichen) Außen- und Sicherheitspolitik als Reaktion auf die russische Aggression, so ergeben sich mit Fortdauer des Krieges ebenfalls zunehmend Fragezeichen hinsichtlich der angeblich so grundlegenden Umwälzung des Februar 2022. Mittlerweile ist ersichtlich, dass der Westen keineswegs so einig ist, wie dies in den ersten Tagen des Kriege erschien. Erinnert sei an die wirtschafts- und energiepolitischen Sonderinteressen von Staaten wie Ungarn, Tschechien oder der Slowakei beim Ölembargo der EU oder an den Verzicht auf Einfuhrverbote für Erdgas und verschiedene, für die Industrie wichtige Metalle, welcher nicht zuletzt auf deutsche Import abhängigkeiten zurückzuführen ist. Auch hinsichtlich der Waffenlieferungen an die Ukraine offenbaren sich deutliche Unterschiede zwischen den osteuropäischen Ländern (Polen, baltische Staaten), den USA und Großbritannien auf der einen, und etwa Deutschland, Frankreich und Italien auf der anderen Seite. Trotz aller rhetorischer Härte gibt es bei Letzteren noch immer die Hoffnung auf eine diplomatische Lösung des Konfliktes, wohl nach dem Muster der (gescheiterten) Minsker Abkommen. Das weiterbestehende Ziel eines irgendwie gearteten Arrangements mit Russland, etwa als eines zukünftigen Partners gegenüber China, ist dabei seit Jahrzehnten eine Konstante insbesondere der französischen Außenpolitik,[14] welche sich auch in der aktuellen Lage nicht völlig geändert zu haben scheint. Zusammen mit weiterbestehenden Eskalationsängsten und einer bereits spürbaren Ermüdung der Öffentlichkeit angesichts des andauernden Abnutzungskrieges und der Inflationswirkungen der Sanktionen erscheint die längerfristige Entschlossenheit des Westens, Russland in seine Schranken zu weisen, keineswegs gesichert.
Selbst die Zeitenwende in Form des Hundert Milliarden-Euro-Sondervermögens für die Bundeswehr erweist sich bei näherem Hinsehen als weniger beeindruckend als ursprünglich gedacht. Nicht nur war die dafür erforderliche Grundgesetzänderung von parteipolitischem Kleinklein geprägt; die tatsächliche Investitionswirkung fällt auch geringer aus, als das Paket vermuten lässt: So beläuft sich bekanntlich allein der Ausgabenbedarf für die Auffüllung der Munitionsdepots der Bundeswehr auf zwanzig Milliarden Euro. Entgegen der vollmundigen Ankündigung des Bundeskanzlers, Deutschland werde ab sofort jährlich zwei Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Verteidigung ausgeben, sieht die mittelfristige Finanzplanung der Bundesregierung zudem vor, den Verteidigungsetat in den nächsten Jahren bei gut fünfzig Milliarden Euro zu belassen, was gegenwärtig rund 1,4 Prozent des BIP entspricht. Dass das Zwei-Prozent-Ziel im Durchschnitt der nächsten Jahre erreicht werden dürfte, liegt an den Zusatzmitteln des Bundeswehr-Sondervermögens, welches aber keineswegs verstetigt ist. Einer nachhaltigen Finanzierung der Streitkräfte auf deutlich höherem Niveau als bisher entspricht das wohl nicht. Dies nährt den Verdacht, dass die verteidigungspolitische »Zeitenwende« nur ein Strohfeuer sein könnte, zumal ein massiver Ausbau der Produktionskapazitäten der Rüstungsindustrie angesichts von Personalmangel und bislang fehlender Planungssicherheit ebenfalls nicht gesichert erscheint – und ohnehin technisch gar nicht kurzfristig möglich ist.
Auch hier ist hinsichtlich der notwendigen Selbstkritik der Sozialwissenschaften ein Aspekt zu unterstreichen: Nicht zuletzt die deutsche wissenschaftliche Community war hinsichtlich der Handlungsoptionen als Reaktion auf die russische Aggression in großen Teilen unvorbereitet. Dies mag wiederum damit zusammenhängen, dass die sicherheitspolitische und strategische Forschung in Deutschland gegenwärtig unterentwickelt ist und entsprechend Arbeiten zu Bedrohungen und verteidigungspolitischen Worst-Case-Szenarien rar sind:

»Die zentrale Unterscheidung zu den Strategischen Studien und den Sicherheitsstudien ist das Erkenntnisinteresse der kurz- und langfristigen Minderung von Gewaltanwendung in der Friedensforschung gegenüber dem Ziel der Verbesserung der Position der ›eigenen Seite‹ gegenüber Bedrohungen und Risiken [...]. Friedensforschung und Strategische Studien mögen sich analytisch mit denselben Gegenständen befassen, etwa den Konsequenzen aus der Vermutung, dass der Klimawandel in Zukunft Sicherheitsprobleme schaffen könnte, unterscheiden sich aber grundsätzlich in Bezug auf die politischen Schlussfolgerungen.«[15]

Der Mangel an Beratungswissen aus den Strategischen Studien führt möglicherweise dazu, dass die Verteidigungspolitik der »Zeitenwende« wie oben erwähnt durchaus improvisiert und nicht immer völlig durchdacht erscheint, etwa im Hinblick auf das längerfristige Verhältnis zu Russland.

Die eigentliche »Zeitenwende«

Die in der öffentlichen Diskussion primär thematisierten Aspekte der »Zeitenwende« scheinen daher nur in beschränktem Ausmaß Elemente eines tatsächlichen politisch-gesellschaftlichen Strukturbruchs zu sein. Indes sind es zwei andere, nur allmählich in das Bewusstsein vieler Beobachter tretende und vor allem nicht intendierte bzw. nur begrenzt von nationaler Politik steuerbare Punkte, welche längerfristig tatsächlich fundamentale Veränderungen nach sich ziehen könnten. Sie haben mit der Einordnung der Konsequenzen des Ukrainekrieges in die größere, globale Konstellation zu tun, und der laufende Konflikt hat für sie eine, wenn nicht ursächliche, so doch katalytische Bedeutung. Zum einen ist da die Frage der bereits im Eingangszitat angesprochenen zunehmenden Blockbildung zwischen den autoritären Regimes wie Russland und China auf der einen und den westlichen Demokratien auf der anderen Seite. Diese vollzieht sich in den westeuropäischen Staaten und insbesondere in Deutschland deutlich langsamer und unwilliger als etwa in den Vereinigten Staaten, was nicht nur an der dominanten idealistisch-normativen Sicht auf die internationale Politik liegt, sondern auch an den Folgen für das etablierte, stark exportorientierte Wirtschaftsmodell der Bundesrepublik und damit für den Wohlstand der Deutschen. Im Unterschied zur Bundesrepublik stehen das Decoupling von China und der Zwang zur Verkürzung und Diversifizierung strategisch wichtiger Lieferketten schon spätestens seit der Amtszeit Präsident Trumps auf der US-amerikanischen (wie im Übrigen auch auf der chinesischen) Agenda. Die deutsche Wirtschaft und Politik nehmen die diesbezüglichen Herausforderungen mit deutlicher Verspätung wahr, nämlich – nach Ansätzen durch die Corona-Pandemie – vor allem infolge der Ukrainekrise und des wachsenden Misstrauens auch gegenüber den Ambitionen der Volksrepublik. Mittlerweile reichen die sicherheitspolitisch geprägten Tendenzen der De-Globalisierung bis hin zur Vorstellung einer »democratic trade partnership«,[16] welche Wirtschafts beziehungen mit Verbündeten und demokratischen Systemen präferiert – eine Konstellation, auf die etwa die großen deutschen Konzerne weitestgehend unvorbereitet erscheinen.[17]
Zum anderen ist da die sich verschärfende Klimakrise: Die Sicherung der kurzfristigen Energieversorgung zusammen mit der wachsenden Nahrungsmittelkrise vor allem im Globalen Süden führt offenbar dazu, dass klimapolitische Nachhaltigkeitsziele gegenwärtig von der Prioritätenliste der praktischen Politik verdrängt werden.[18] Angesichts der zunehmenden Eigendynamik des Klimawandels und der raschen Annäherung an Kipppunkte der Erderwärmung deutet einiges darauf hin, dass die beabsichtigte Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf 1,5 oder 2,0 Grad mittlerweile höchst unwahrscheinlich ist – mit all den prognostizierten Konsequenzen.[19] In diesem Sinne kennzeichnet die »Zeitenwende« nicht nur die Manifestation des selbstverschuldeten Scheiterns einer allzu optimistischen Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik nebst ihrer wissenschaftlichen Wahrnehmung und privatunternehmerischen Prägung sowie das nun (teilweise noch immer halbherzig) erfolgende Umsteuern einer schockartig mit der Realität konfrontierten Gesellschaft. Vielmehr ist sie der Übergang in eine zunehmend antagonistische, agonale internationale Ordnung und langfristig gefährliche Zukunft, die weit über die aktuelle Konfliktkonstellation und die Frage des Umgangs mit Russland hinausweist – an die wir uns aber gewöhnen müssen.

[1] Claudia Baumgart-Ochsner u. a., Stellungnahme. Friedensfähig in Kriegszeiten, in: BICC u. a. (Hg.), Friedensgutachten 2022, Bielefeld 2022, S. 5–13, hier S. 5.
[2] Vgl. James Hackett, Die Modernisierung der russischen Streitkräfte, in: SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen, H. 2/2021, S. 125–139.
[3] Vgl. Rainer Lindner, Putins Geschichtspolitik. Die Inszenierung der Vergangenheit in Russland, in: Internationale Politik, H. 4/2006, S. 112–118.
[4] Vgl. Jörg Himmelreich, Großreich Putin, in: Internationale Politik, H. 5/2008, S. 83–85; William Horsley, Russia’s revisionism. Democracy and human rights, in: The World Today, H. 2/2009, S. 18–21; Andreas Heinemann-Grüder, Politik als Krieg. Die Radikalisierung des Putinismus, in: Osteuropa, H. 9–10/2014, S. 79–95.
[5] Ursula Schröder, Hic sunt dracones. Wege zu einer neuen Friedens- und Sicherheitsordnung für Europa, in: Forschung und Lehre, H. 6/2022, S. 452–453, hier S. 452.
[6] Vgl. Michael C. Williams, Words, Images, Enemies. Securitization and International Politics, in: International Studies Quarterly, H. 4/2003, S. 511–531.
[7] Ralph Rotte, Vom »Zwiespalt der Kulturen« zum »Clash of Civilizations«. Das exemplarische Scheitern des Liberalen Friedens 1914 und seine Lehren für die internationale Politik der Gegenwart, Neuried bei München 2001, S. 366 f.
[8] Vgl. Igor V. Podberezsky, Between Europe and Asia: the search for Russia’s civilizational identity, in: Gennady Chufrin (Hg.), Russia and Asia. The Emerging Security Agenda, Oxford 1999, S. 33–51.
[9] Michael Brzoska, Friedensforschung und Internationale Beziehungen – Lob der Verschiedenheit, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, H. 1/2012, S. 127–141, hier S. 130.
[10] Nicole Deitelhoff & Michael Zürn, Lehrbuch der Internationalen Beziehungen. Per Anhalter durch die IB-Galaxis, München 2016, S. 9.
[11] Georg Häsler, Stell dir vor, es ist Krieg, in: Neue Zürcher Zeitung, 21.06.2022, tiny.one/indes221a1.
[12] Vgl. Ralph Rotte, Das Phänomen Krieg. Eine sozialwissenschaftliche Bestandsaufnahme, Wiesbaden 2019, S. 69–73.
[13] John Mearsheimer, The Case for a Ukrainian Nuclear Deterrent, in: Foreign Affairs, H. 3/1993, S. 50–66, hier S. 55.
[14] Vgl. Raoul Castex, Moscou, rempart de l’occident?, in: Revue de défense nationale, H. 11/1955, S. 129–143.
[15] Michael Brzoska, Friedensforschung und Internationale Beziehungen, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, H. 1/2012, S. 127–141, hier S. 133.
[16] Ash Jain & Matthew Kroenig, A Democratic Trade Partnership. Ally Shoring to Counter Coercion and Secure Supply Chains, Washington DC (Atlantic Council) 2022.
[17] Vgl. Rolf J. Langhammer, Reluctant US vs Ambitious German Direct Investment in China – The Tale of Two Strategies, Kiel Institute for the World Economy Policy Brief 162/2022.
[18] Vgl. Jürgen Scheffran, Klimaschutz für den Frieden. Der Ukraine-Krieg und die planetaren Grenzen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 4/2022, S. 113–120.
[19] Vgl. IPCC, Klimawandel 2021 – Naturwissenschaftliche Grundlagen. Zusammenfassung für die politische Entscheidungsfindung. Beitrag von Arbeitsgruppe I zum Sechsten Sachstandsbericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen, Bonn 2022.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2-2022 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2022