»Wir trauen uns keine neuen Ängste zu« Interview mit Stephan Grünewald über die psychische Lage der Nation im Angesicht von Pandemie und Krieg

Von Stephan Grünewald

Herr Grünewald, Sie sind Experte für Tiefenpsychologie. Wie erfassen Sie das Deutschland, das bei Ihnen auf der metaphorischen Couch liegt?

Wir verfolgen einen breiten Methodenmix, aber das wichtigste Erkenntnisträgermedium ist immer noch das psychologische Tiefeninterview. Das dauert etwa zwei Stunden und läuft ab wie beim Psychoanalytiker. Der Proband sitzt dem Psychologen gegenüber; die Couch ist sinnbildlich, denn es entsteht ein Raum, in dem der Proband das Gefühl hat, hier ist alles erlaubt. Hier gibt es kein Richtig oder Falsch, keine moralische Bewertung. Er kann seine persönliche Sicht und Befindlichkeit ausbreiten und wird immer wieder ermuntert, das, was meistens erst mal in Form einer Rationalisierung an Antworten aus ihm herauskommt, konkret zu beschreiben. Das ist eine Forschungsreise, die intensivierenden Charakter hat, denn idealerweise kommt der Proband sich selbst auf die Schliche. Im Prozess bemerkt er, dass in jeder Explikation noch eine Implikation steckt, die man erneut explizieren kann. Und so entsteht in diesen Windungen ein ganzes Bild von der Sache, ob es ein Bild von einer Partei ist, von einer politischen Stimmung, von Alltagsverrichtungen wie Putzen oder Wäschewaschen. Wir brauchen immer diese zwei Stunden, um zu verstehen, was die Menschen in bestimmten Kontexten bewegt und antreibt. [...]

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2-2022 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2022