Zeitenwende und Ostpolitik So viel Idealismus wie möglich, so viel Realpolitk wie nötig
Mit seiner Regierungserklärung am 27. Februar 2022 prägte Bundeskanzler Olaf Scholz einen Begriff, der die politische Debatte seitdem bestimmt: »Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents [...] Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.«[1] Der Begriff der Zeitenwende wird höchstwahrscheinlich auch künftige Publikationen von Politik- und noch später von Geschichtswissenschaftler:innen beeinflussen. Die ersten dieser Veröffentlichungen sind sogar bereits erschienen.[2] Kritisiert wird der Begriff nur selten. Offensichtlich hat Scholz damit das Gefühl einer Mehrheit der Bevölkerung getroffen.
Eine Zeitenwende bezeichnet das Ende einer zusammenhängenden Epoche und den Beginn einer qualitativ neuen Phase. Es handelt sich also um mehr als die Änderung einer politischen Strategie oder Programmatik. Zeitenwende impliziert damit, so auch die Formulierung des Bundeskanzlers, dass die Welt innerhalb relativ kurzer Zeit eine andere geworden ist. In diesem Sinne steht die von Scholz postulierte Zeitenwende nach dem russischen Angriff auf die Ukraine auf der deutschsprachigen Wikipedia-Seite aktuell neben epochalen Ereignissen wie dem Beginn der christlichen Zeitrechnung und dem Ende der kommunistischen Diktaturen in Europa zwischen 1989 und 1991.[3] [...]
[2] So zum Beispiel die Monografie des ehemaligen bundesdeutschen Botschafters in Russland: Rüdiger von Fritsch, Zeitenwende. Putins Krieg und die Folgen, Berlin 2022.
[3] Vgl. tiny.one/indes221b2 (Stand 14.07.2022).
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2-2022 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2022