Bildkonzept „Zeitenwende“

Von Luisa Rolfes

Im Jahr 1937 entwarf Pablo Picasso unter dem Eindruck der massiven und als willkürlich wahrgenommenen, von blinder Zerstörungswut getriebenen Bombardierung der baskischen Stadt Guernica durch deutsche und italienische Truppen das bis heute wohl bekannteste Antikriegsbild, das – gerade in jüngster Zeit – zahlreiche Künstler:innen zu eigenen Versionen inspiriert hat. Die Illustrationen dieser Ausgabe sind allesamt Neuinterpretationen von Picassos »Guernica«. Die meisten von ihnen entstanden noch vor dem russischen Angriff auf die Ukraine, thematisieren jedoch die traurige Kontinuität von Krieg, Leid und Zerstörung.
So ist etwa das Covermotiv ein Ausschnitt aus Vasco Gargalos »Alepponica«, einer Neuinterpretation, welche die Bildsprache nah am Original reproduziert, jedoch mit Charakterzügen zentraler Figuren im Kontext des Syrienkriegs versieht, darunter Putin in Gestalt des Stiers. Wer sich näher mit Picassos Werk auseinandersetzt, weiß um dessen Vieldeutigkeit. So kann etwa der Stier sowohl als Symbol von Widerstandskraft als auch von Brutalität, eines Männlichkeitskults oder der Wut des Künstlers selbst gelesen werden.

»Guernica« zeichnet ein Bild von Chaos und Zerstörung, jedoch keine eindeutigen Personifikationen von Gut und Böse. Das spiegelt sich auch in den verschiedenen Neuinterpretationen wider. Michael Dyne Mieth hat in seinem Werk »G18« die Dualität von Gut und Böse, die immer eine Frage der Perspektive sei, anhand eines Schachbretts verbildlicht; als Blumen getarnte Waffen symbolisieren hier die zweifelhafte Funktion von Medien und ihrer Kriegspropaganda. In den Bildern anderer Künstler:innen erscheinen die Zuschreibungen eindeutiger, etwa bei B.Marina, deren Version im Kontext des Ukrainekriegs steht. Oscar Vega reflektiert in seinem Bild soziale Ängste der Gegenwart und Alex Dorici verarbeitet die sozialen Erschütterungen in der pandemischen Gesellschaft. »Guernica de la Ecología« von Claudy Jongstra kommt ganz ohne Akteur:innen aus und versteht sich als Warnung vor den Gefahren des Klimawandels. José Manuel Ballester interessiert sich für die verborgenen Räume im Hintergrund. In den Werken von Miguel Caravaca und Dirk Ghys werden einzelne Figuren aufgegriffen und das Bild mit sexuellen Elementen ergänzt oder kontrastiert. Und zuletzt setzt sich Javier Granados bitter-ironisch mit Picasso auseinander, indem er dem bedrückenden Antikriegsbild unter dem Titel »Paz en Guernica« (Frieden in Guernica) ein naiv anmutendes Bild von Frieden und Leichtigkeit entgegensetzt.

Keine dieser Beschreibungen wird den Kunstwerken im Einzelnen gerecht, jedoch zeigt sich in der Gesamtheit die Vielschichtigkeit der Auseinandersetzung mit den Krisen der Gegenwart, die sich nicht ohne Grund eines Kunstwerks bedient, das wie kaum ein anderes die tiefe Erschütterung seines Urhebers zum Ausdruck bringt.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2-2022 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2022