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Wilhelm Heitmeyer

»Was als normal gilt, kann nicht mehr problematisiert werden« Gespräch mit Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer über Deutsche Zustände, Parallelgesellschaften und die Lockungen des Linkspopulismus

Wilhelm Heitmeyer charakterisiert das Spezifikum der Nullerjahre mit dem Begriff der Entsicherung. Der Kapitalismus habe auf Kosten des Staates an Kontrollmacht gewonnen und sei zunehmend autoritär aufgetreten. Die in der Ökonomisierung auch wirtschaftsferner Lebensbereiche begründet liegenden subjektiven Unsicherheitsgefühle äußerten sich auf der Einstellungsebene in einer zunehmenden Feindseligkeit gegenüber Minderheiten, Fremden, Randgruppen und in der Politik im Aufstieg des (rechten) Populismus. Diesem mit einem linken Gegen-Populismus zu begegnen, hält er freilich für aussichtslos.

Franz Walter

Zwischen Hoffnung, Depression und gelassenem Fatalismus Deutsche Gefühlswelten in den Nullern

Was dachten die Deutschen in den Nullerjahren? Trieb sie mehr Sorge oder überwog die Hoffnung auf eine erfreuliche Zukunft? Wie standen sie zur Politik? Welche Partei gewann im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts an Zuneigung? Wer verlor warum an Zuspruch? Diesen und anderen Fragen widmet sich Franz Walter, zugespitzt und meinungsstark, auf Basis der Allensbacher Einstellungsforschung und entwirft dabei ein vielgestaltiges Bild deutscher Gefühlswelten im ersten Jahrzehnt des noch jungen Jahrtausends.

Peter Filzmaier

Volksparteienerosion und schwarz-blaue Wende Die Nullerjahre in Österreich

Peter Filzmaier schildert in seiner Analyse die Entwicklung der österreichischen Volksparteien vor dem Hintergrund der Nationalratswahlen. Dadurch vermag er zu zeigen, wie es zur schwarz-blauen Koalition der christkonservativen ÖVP mit der rechtspopulistischen FPÖ kam, weshalb die ÖVP die Folgewahlen derart hoch gewann und warum sich die SPÖ im Jahr 2006 entgegen allen Erwartungen den Spitzenplatz unter den österreichischen Parteien zurückerobern konnte. Trotz aller Wechsel und Umschwünge beschreibt Filzmaiers Darstellung jedoch den fortgesetzten Niedergang der einst stolzen, kraftstrotzenden und ultrastabilen österreichischen Volksparteien.

Karina Becker

Tragen Beschäftigte wieder ihre Haut zu Markte? Arbeit und Gesundheit in den Nullerjahren

Das Verhältnis von Arbeit und Gesundheit ist ein zentrales Konfliktfeld im Kapitalismus. Seit Anfang der Nullerjahre wird dies erneut besonders deutlich am starken Anstieg psychischer Erkrankungen infolge der Flexibilisierung der Arbeitswelt. Karina Becker zeigt, dass mangelnde Fortschritte im Arbeits- und Gesundheitsschutz derzeit vor allem der einseitigen Fokussierung auf verhaltensbezogene Maßnahmen, die den Beschäftigten selbst die Verantwortung für ihre Gesundheit zuweisen, und der damit einhergehenden Vernachlässigung struktureller Verbesserungen von problematischen Arbeitsbedingungen geschuldet sind.

Helmut Lethen

Sporadische Durchbrüche und plötzliche Gewissheiten Ein Jahrzehnt mit vergessenen Weckreizen

Irgendwie erscheint mir das Jahrzehnt 2000 bis 2010 als ein Zeitraum sporadischer Durchbrüche plötzlicher Gewissheiten, die ebenso rapide vom Taktschlag der Gleichgültigkeit der Geschichte eingeebnet wurden, um womöglich im neuen Raum des Postfaktischen ganz der Vergessenheit anheimgestellt zu werden.“ Warum das so ist und was er damit meint, das beschreibt Helmut Lethen in seinem Beitrag zu den Nullerjahren als einem „Jahrzehnt mit vergessenen Weckreizen“.

Luise Stoltenberg

Zur urbanen Ökonomie des Teilens Airbnbs Einfluss auf den städtischen Raum

Luise Stoltenberg untersucht die tiefgreifenden Wirkungen der Sharing Economy auf das städtische Alltagsleben am Beispiel des Unternehmens Airbnb als einem ihrer zentralen Vertreter. Dabei veranschaulicht sie, dass die mit der Sharing Economy verbundene Abkehr von der traditionellen Besitzökonomie nicht nur positive Folgen zeitigt. Vielmehr treten die von Airbnb ausgelösten Dynamiken der Stadtpolitik und Stadtplanung janusgesichtig gegenüber. Und so stellt sich aktuell die Frage neu, wem die Stadt gehört.

Frank Uekötter

Zweierlei Ausstieg Über die Virtualisierung der ökologischen Debatte

Doppelter Atomausstieg: Im Jahr 2000 einigte sich die rot-grüne Bundesregierung mit den Betreibern von Kernkraftwerken auf einen Vertrag, der die Laufzeit der Atomkraftwerke begrenzt – der Atomkonsens. 2011 beschloss das Bundeskabinett im Zuge von „Fukushima“ dann ein Atommoratorium. Diese beiden Ereignisse nimmt Frank Uekötter zum Anlass einer „Art Probebohrung im bundesdeutschen Umweltdiskurs“, wie er schreibt. Er kommt zu dem Ergebnis, das im Atomkonflikt während der Nullerjahre der Trend zu einem moralischen Purismus ging, der die realen Probleme der Kernenergie in den Hintergrund drängte. Deutschland lebe in einer nur virtuellen grünen Wohlfühlsphäre.

Eunike Piwoni

Ein deutsches Jahrzehnt? Der deutsche Identitätsdiskurs als ein Happy End unter Vorbehalt

Das deutsche „Sommermärchen“, die vielen schwarz-rot-gold beflaggten Fußballfans auf den Straßen und Marktplätzen anlässlich der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland im Jahr 2006, konnte als Moment der „Normalisierung“ ins kollektive Gedächtnis der Deutschen eingehen, konstatiert Eunike Piwoni in ihrem Beitrag. Die Autorin wirft die Frage auf, warum während der WM kritische Stellungnahmen weitgehend ausblieben, und führt hierfür ihre These an, der zufolge dem Sommermärchen von 2006 eine diskursive Verschiebung im Zuge der sogenannten Vergangenheitsbewältigungsdebatten der 1990er Jahre vorangegangen sei.

Wolfgang Ernst

Medien- und/oder Geschichtszeit Vom Ende der Erzählbarkeit

Wolfgang Ernst befasst sich mit dem Einfluss digitaler Technologien auf Geschichte und Geschichtsrekonstruktion. Duch die massenmediale Live-Übertragung bleibe keine Zeit mehr für historische Reflexion, die elektronische bzw. digitale Datenübertragung schreibe Geschichte in Echtzeit, beeinflusse selbst die Ereignisse. Für die Geschichtswissenschaft ergibt sich daraus auch die Anforderung, digitale Datenbestände technisch zu beherrschen.

Alexa Hennig von Lange

Why Does My Heart Feel So Bad? Ein Essay über die Nullerjahre

Alexa Hennig von Lange entwirft in ihrem ganz subjektiven Essay das Bild eines konformen, auch depressiven Jahrzehnts, in dem die Menschen nach der überbordenden Fülle der Neunziger plötzlich einsehen mussten, dass die Welt in Anbetracht von unfassbarem Terror, Wirtschaftskrisen, verheerenden Naturkatastrophen, unaufhaltsamem Klimawandel und anderen schlimmen, schlimmen Krisen und Kriegen eine andere ist, was die Autorin nicht zuletzt am gefühlten Niedergang Hannovers festmacht.

Perspektiven

Katia Henriette Backhaus

»Mehr als das Leiden an Beschäftigungsbedingungen« Zur Lage deutscher Universitäten

Katja H. Backhaus analysiert den andauernden und „unvollkommenen“ Transformationsprozess deutscher Universitäten. Dabei diagnostiziert sie diverse Probleme, die sich vor allem aus der Anstellungs- und Befristungspraxis des wissenschaftlichen Nachwuchses ergeben. Auf der Suche nach Lösungen diskutiert sie dieses vielschichtige Problem – aber auch alternative Modelle zu den regelrecht „feudalen“ Abhängigkeitsverhältnissen der DoktorandInnen und Post-DoktorandInnen von den ProfessurinhaberInnen. Sie beleuchtet dabei nicht alleine die Unsicherheiten für die Betroffenen, sondern auch die daraus resultierenden Probleme für den Wissenschaftsstandort Deutschland, etwa einen der gegenwärtigen Situation geschuldeten Trend zum Konformismus.

Detlef Lehnert

Kehrseite des Technokratismus Vergleichende Notizen zum neueren westlichen Rechtspopulismus

Detlef Lehnert zeigt in seinem Beitrag, dass der auf dem Vormarsch befindliche westliche Rechtspopulismus erstaunlich heterogen ist. Ein Element, das demagogische Milliardäre wie Donald Trump mit Parteien wie der AfD verbindet, sei jedoch neben der Fremdenfeindlichkeit die politische Flexibilität, mit der sich populistische Akteure „ideologischen Ballasts“ aus Gründen der Stimmenmaximierung entledigen. Aufgrund dieser Inhaltslosigkeit deutet Lehnert den Rechtspopulismus als Ergänzung eines „neuen entpolitisierenden Technokratismus“, der mit seinem Mantra einer alternativlosen Verwaltung der Verhältnisse die populistische Mobilisierung zusätzlich anspornt.

Jürgen Hartmann

Wenn das Zeremoniell zu Politik wird Honeckers Besuch in der Bundesrepublik im September 1987

Jürgen Hartmann zeigt anhand von Erich Honeckers Besuch in der Bundesrepublik im September 1987, wie aus der scheinbaren Nebensache des protokollarischen Ablaufs ein zentrales Element der politischen Auseinandersetzung wird. Er beschreibt sowohl die Bemühungen der bundesrepublikanischen Seite als auch die des Staatsapparats der DDR, die jeweils durch das Zeremoniell im Sinne der eigenen Interessen zu wirken versuchten. Die Ausverhandlung des Besuchs wurde dabei zu einem Ringen um vermeintliche Feinheiten, in der die Vertreter der Bundesrepublik versuchten, der DDR möglichst wenig Spielraum zu liefern, den Besuch im Sinne ihres Hauptinteresses zu inszenieren: einer Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik.

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