Zweierlei Ausstieg Über die Virtualisierung der ökologischen Debatte
Der Weg der Bundesrepublik ins Atomzeitalter war lang und gewunden, und der Ausstieg aus der Atomkraft war es erst recht. Auch wenn das Thema politisch tot ist, werden noch fünf Jahre ins Land gehen, bevor das letzte deutsche Atomkraftwerk abgeschaltet sein wird. Und der Umgang mit den strahlenden Hinterlassenschaften sprengt ohnehin den zeitlichen Rahmen der menschlichen Geschichte. Es gibt jedoch zwei markante Daten, die praktischerweise ziemlich genau am Anfang und am Ende der Nullerjahre stehen: Am 15. Juni 2000 einigte sich die rot-grüne Bundesregierung mit den Betreibern von Kernkraftwerken auf einen Vertrag, der die Laufzeit der Atomkraftwerke begrenzte und als Atomkonsens bekannt wurde; gut zehn Jahre später beschloss das Bundeskabinett unter dem Eindruck der Katastrophe von Fukushima
ein Moratorium, das am 30. Juni 2011 in einen von breiter Mehrheit getragenen Bundestagsbeschluss mündete. Diese beiden Ereignisse dienen im Folgenden als Ansatzpunkte für eine Art Probebohrung im bundesdeutschen Umweltdiskurs. Die unterschiedlichen Kontexte und Reaktionen spiegeln einen Umbruch im ökologischen Denken, der sich vielleicht am besten als Virtualisierung bezeichnen lässt.
Damit soll keineswegs suggeriert werden, dass eines der beiden Ereignisse gewichtiger gewesen sei. Vielmehr sind beide Ereignisse nur in ihrem Zusammenspiel als politische Wendepunkte zu verstehen. Erst recht verbindet sich mit dem Begriff keine Unterstellung, dass sich die Gefahren der Atomkraft oder die Angst vor selbigen im Verlauf der Nullerjahre grundlegend gewandelt hätte. Vielmehr geht es darum, wie sich Themen, Referenzrahmen und Konfliktlinien im Laufe eines Jahrzehnts veränderten. Wenn sich dabei Sachpolitik und Symbolpolitik zunehmend auseinanderentwickelten, ist das vielleicht eher ein Grund zur Sorge. […]
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2017 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017