Sporadische Durchbrüche und plötzliche Gewissheiten Ein Jahrzehnt mit vergessenen Weckreizen
1994 endete das Kapitel über Carl Schmitt in den »Verhaltenslehren der Kältezei« mit den Sätzen:
»Für Carl Schmitt war es ein Grund allen Unheils, dass die Menschheit keinen Vater mehr als Quelle der Autorität akzeptierte, sondern dass an seine Stelle die ›Sachlichkeit‹ des Gesetzes getreten war. Darin lag für ihn die Schande der Novemberrevolution und das Versagen der Rechtsgelehrten der Weimarer Republik. Der ›Gesetzespositivismus‹, schreibt er ins Tagebuch, ›tötet seinen Vater und verspeist seine Kinder‹.[1] Die schlimmste Form des ›Vaterfraßes‹ fand er im Amerikanismus, anfangs im neusachlichen Jahrzehnt der Weimarer Republik und später in der Bundesrepublik. Als Kinder dieses Amerikanismus versuchten wir seit drei Jahrzehnten einer politischen Romantik Paroli zu bieten, die, wie Paul Tillich formuliert hatte, antritt, um ›vom Sohn her die Mutter zu schaffen und den Vater aus dem Nichts zu rufen‹. Darum stimmt es nicht traurig, wenn die akustischen Bedingungen für den Ruf nach dem Vater zu unseren Lebzeiten herzlich schlecht bleiben.«[2]
Es war gewagt, schon 1994 von »unseren Lebzeiten« zu reden. Sprach daraus nicht das Grundvertrauen der »Kinder des Amerikanismus«, dass es – durch keine Zukunft begrenzt – so weitergehe? Ein Vierteljahrhundert später erscheint alles in einem anderen Licht. Es brach sich allerdings nur zögernd Bahn.
Am 25. Februar 2003 veröffentlichte die tageszeitung einen Artikel der Historikerin Ute Frevert, in dem die Autorin die ablehnende Haltung der Schröder-Regierung zur Möglichkeit einer militärischen Intervention im Irak problematisierte. Ute Frevert wurde 1991 mit dem Buch »Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft« bekannt. Sie ist eine ausgezeichnete Kennerin der Tradition der »satisfaktionsfähigen Gemeinschaft« in Deutschland und hatte die Vorgeschichte der »Verhaltenslehren der Kälte« erschlossen, die ich für die Zeit zwischen den Weltkriegen rekonstruierte. Der Grundtenor ihres Artikels traf mich wie ein Schlag. Vielleicht verdankte sich Ute Freverts Polemik der Tatsache, dass sie soeben aus den USA, wo sie eine Zeit lang als Professorin in Yale gelehrt hatte, zurückgekommen war. Jedenfalls formulierte sie einen Gedanken, der mir im Traum nicht eingefallen wäre: Die pazifistisch angehauchte deutsche Politik gefalle sich im Habitus der Ohnmacht und diese Einstellung könne nicht in selbstbewusste Politik übersetzt werden. Zwar sei es eine große kulturgeschichtliche Leistung gewesen, dass in Deutschland die Tradition des bellizistischen Habitus nach 1945 gebrochen worden sei, während in der Zwischenkriegszeit die meisten Kriegsdenkmäler noch unter dem Motto »Klagt nicht, kämpft« die Überlebenden für den nächsten Waffengang mobilisiert hätten. Nach 1945 habe das Militär in Deutschland seine kulturelle und politische Prägekraft verloren. Allerdings frage sie sich, ob die Kultivierung des Habitus der Ohnmacht nicht von der Unfähigkeit, Krieg zu führen, komme.
Die Redaktion der tageszeitung versah Freverts Artikel, der 2003 meinen Schock der Erkenntnis auslöste, mit einem Foto von Jupp Darchinger. […]
Anmerkungen:
[1] Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951, hg. von Eberhard Freiherr von Medem, Berlin 1991, S. 148.
[2] Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M. 1994, S. 233 f.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2017 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017