Editorial

Von Jöran Klatt  /  Michael Lühmann  /  Matthias Micus

Der Jahreswechsel des 31. Dezember 1999 zum 1. Januar 2000 – in die sogenannten Nullerjahre – verlief verblüffend gewöhnlich angesichts allerlei apokalyptischer Szenarien, die im Vorfeld beschworen worden waren. Sprach die Medienöffentlichkeit noch zuvor von den katastrophalen Folgen der Jahrtausendwende, so wachten die Menschen am ersten Januar doch in einer auffallend gleichen Welt auf, mit den gleichen Problemen und der gleichen Alltäglichkeit wie in den Jahren zuvor.

Dennoch: Es war ein neues Jahrtausend angebrochen. Bis von den Nullerjahren als einer möglichen Zäsur gesprochen wurde, sollte es allerdings noch beinahe zwei Jahre dauern. Mit den Anschlägen vom 11. September 2001 wurden gewohnte Sicherheiten erschüttert. Hatte man in den 1990er Jahren noch gedacht, man sei in einer nun endgültig von Amerika dominierten – und das hieß zugleich: in einer entlang universal gültiger Werte sich in demokratischen Staatswesen organisierenden – Weltordnung angekommen, die Francis Fukuyama etwas leichthändig mit dem »Ende der Geschichte« gleichsetzte, so schienen alle derartigen Diagnosen und Thesen mit dem Einsturz der beiden Türme des World Trade Center obsolet.

Waren die Nullerjahre also im Wesentlichen ein Jahrzehnt neuartiger Verunsicherung oder, noch pointierter: der Entsicherung? So lautet jedenfalls die Bilanz, die der emeritierte Bielefelder Wilhelm Heitmeyer aus einem die Zäsuren übergreifenden Forscherleben zieht. Die Globalisierung, so Heitmeyer, habe zu Kontrollverlusten von Politik und Nationalstaat sowie Kontrollgewinnen des seine Interessen rücksichtslos und autoritär durchsetzenden globalisierten Kapitals geführt – mit der Folge zahlreicher Kontrollverluste und tiefgehender Desintegrationsprozesse aufseiten der Bevölkerung.

Ökonomisch rahmen Finanzkrisen das Jahrzehnt, beginnend mit der Dotcom-Blase des Jahres 2000 und endend mit den bis heute unabgeschlossenen Folgewirkungen der als Bankenkrise startenden weitreichenden Erschütterungen in den Jahren 2007 und folgende, welche die Privatvermögen ebenso wie die Staatshaushalte und die europäische Gemeinschaftswährung betrafen. Ökologisch reichten die Nullerjahre von der Entdeckung des Anthropozän im Jahr 2000 bis zur explodierten Ölplattform Deep Water Horizon und den Waldbränden um Tschernobyl 2010. Und nachdem den Grünen die Ökologie als Thema zunächst verloren gegangen schien, wurde es ab 2005 in intensiv geführten Debatten über die Grenzen des Wachstums wiederentdeckt, halb gipfelnd, halb die Debatte abbrechend in Forderungen nach einem ökomodernistischen Green-New-Deal.

Schließlich die Bürgergesellschaft: Nicht zuletzt aufgrund des unter neuliberalen Auspizien sich vollziehenden Rückbaus staatlicher Regelungsleistungen sowie infolge der fortschreitenden Erosion der Volksparteien als den zentralen Transmissionsriemen zwischen der Gesellschaft und dem Staat verbanden sich in den Nullerjahren denkbar kühne Erwartungen mit der nun in Fest- und Sonntagsreden beständig hoffnungsfroh angerufenen Bürger- bzw. Zivilgesellschaft. Insbesondere auch im Rückblick und vor dem Hintergrund fremdenfeindlicher Bürgerpartizipation etwa bei den »Pegida«-Demonstrationen stellt sich diesbezüglich freilich die Frage, was von der süßen Utopie der Bürgergesellschaft geblieben ist? Ist sie tatsächlich der neue Ort zeitgemäßer politischer Beteiligung? Fundamentiert sie im Unterschied zu repräsentativen Institutionenordnungen eine unmittelbarere, unverfälschte Form der Demokratie? Oder impliziert der positiv konnotierte Begriff des Bürgers zugleich die Abwertung alles Nicht-Bürgerlichen – und verschärft auch dadurch die ohnehin gewachsene Ungleichheit, etwa indem sie »nach unten« noch weniger offen ist als die ob ihrer vermeintlich hermetischen Strukturen beständig kritisierten Parteien?

Letztere waren in der auf den Jahrtausendwechsel folgenden Dekade mit einer neuen Qualität des Vertrauensentzugs konfrontiert. Kritik, Ablehnung und Verdrossenheit: In diesen Schlagworten bündeln sich weitverbreitete Haltungen gegenüber den Parteien und dem von ihnen rekrutierten politischen Personal. Gleichzeitig gewann die Parole der Authentizität, schon ein Jahrhundertwechsel zuvor in der Lebensreformbewegung unter dem Begriff der Echtheit popularisiert, eine gesteigerte Zugkraft. Vielleicht mehr denn je war im frühen 21. Jahrhundert Authentizität eine Schlüsselerwartung an individuelles Verhalten, dies allgemein, insbesondere aber mit Blick auf die Inhaber von Führungsämtern und vielleicht noch einmal im Speziellen an Spitzenpolitiker. Doch auch im Fall der Authentizität ist die Verheißung nicht ohne Ambivalenzen. So liegt etwa der Einwand auf der Hand, die Realität der einen sei mitnichten zwangsläufig auch jene der anderen – und was jene als authentisch empfänden, das könne diesen unecht erscheinen. Abgesehen davon, dass durchaus fraglich ist, ob authentisch sein kann, wer sich mit der Ausstellung seiner vermeintlichen Authentizität den Imperativen einer Gesellschaft fügt, die den Echtheitskult zur Norm erhoben hat.

Und noch grundlegender ließe sich einwenden, dass die Nullerjahre insgesamt, so einschneidend der 11. September und seine geopolitischen Folgen auch gewesen sein mögen, so neuartig selbst danach auch wieder nicht waren. Das Leben ging weiter. Das galt zumal auf der strukturellen Ebene – auch im neuen Jahrtausend bestanden die vertrauten Institutionen fort, rekrutierten die Parteien das politische Personal, blieben Wahlen das zentrale Instrument zur Artikulation des Volkswillens. Aber auch die politischen, sozialen, kulturellen Phänomene und Trends richteten sich – wie stets – nicht nach den Jahreszahlen und Dekadenwechseln. Zwar kamen in den Nullerjahren die Smartphones auf – doch ein Thema war die aufkommende Digitalisierung schon in den 1980er und 1990er Jahren in Politik und Gesellschaft gewesen. Insofern dominieren vielfach Kontinuitäten, Traditionsüberhänge, Fortsetzungen von Entwicklungen, die bereits vorangegangene Jahre und Jahrzehnte kennzeichneten.

Die vorliegende Ausgabe von INDES möchte sich angesichts dessen mit dem Jahrzehnt der Nullerjahre befassen, sie will zurückblicken und dabei, noch ganz nah dran, eintauchen in die politisch-sozialen Ereignisse, Strukturen, Mentalitäten dieser Zeit. Kurzum: Es soll ein früher und noch längst nicht archivalisch abgesicherter Blick auf die Frage geworfen werden, was die Nullerjahre kennzeichnet, was sie charakterisiert. Wir wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre.

Seite ausdrucken Download als PDF

Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2017 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017