Dieter Rucht fragt, ob die vermeintlich „neuen“ Formen des Protests – die „Wutbürger“, Netzaktivismus via Web 2.0 etc. – tatsächlich beispiellos neue Phänomene darstellen. Kurz: Erleben wir zu Beginn der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts wirklich eine „neue Kultur des Widerspruchs“ - oder haben wir es nurmehr mit Abwandlungen bereits bekannter Formen zu tun? In der Tat, so Ruchts Analyse, trügen mindestens einige Protestmittel das Etikett „neu“ zu Recht, etwa weil sie sich technischer Entwicklungen bedienten – sog. Cyber-Attacken z.B. –, die früheren Protestlern schlichtweg nicht zur Verfügung gestanden hätten. Auch zeichneten sich moderne Protesttechniken durch eine hohe Ausrichtung an ihrer massenmedialen „Verwertbarkeit“ aus. Doch grundsätzlich durchlaufe die Protestkultur insgesamt lediglich einen allmählichen Wandel – die Stilisierung als „neu“ treffe meist daneben.
Stine Marg und Franz Walter betrachten das Jahr 2011, welches – mit Arabischem Frühling, S 21, Occupy, den Krawallen in englischen Stadtvierteln und Protesten in Griechenland, Spanien, Italien, Irland und Frankreich - vielen als „Jahr der Proteste“ galt. Sie fragen, wie all diese verschiedenen Proteste zusammenhängen, sich evtl. gegenseitig bedingen. Grundsätzlich jedoch, so resümieren sie, mangelt es den allermeisten dieser „Proteste in der Postdemokratie“ an schlüssigen Konzepten für die Zeit danach, an Entwürfen für eine wünschenswerte Zukunft im Anschluss an diese Protestzeiten. Kurz: Man protestiere munter dagegen – wisse aber nicht, wofür.
Ulrike Winkelmann betrachtet das „Zeitgeistphänomen der Protestgesellschaft“ – und widmet sich dabei besonders dem Phänomen des sog. „Wutbürgers“. Die mediale Begeisterung, mit der diese Wortneuschöpfung aufgenommen wurde, stimme skeptisch – tauge er doch vor allem den Journalisten für die Weitererzählung der beliebten Geschichte des „von der Politik entfremdeten Bürgers“. Ob und wie der vermeintliche „Wutbürger“ nun aber eine reale Figur oder ein Mediengespenst sei – Winkelmann stimmt optimistisch, dass diese Debatte auch neue Perspektiven in die öffentliche politische Diskussion über Protestkultur gebracht haben könnte.
Die leidenschaftlich-freudige Diskussion über mehr direkte Demokratie, die im Zuge der aktuellen Proteste etwa um S 21 entflammt ist, lässt sich auch anders lesen als eine Erfolgsgeschichte. Diesen Schattenseiten direkter Demokratie - dem Trugschluss nämlich, mehr Bürgerbeteiligung führe automatisch auch zu mehr Demokratie - widmet sich Thymian Bussemer. Er zeigt, dass eine „erregte Stimmungsrepublik“, in der politische Entscheidungen vor allem an Umfrageergebnissen, d.h. den Meinungen in der Bevölkerung, ausgerichtet sind, keineswegs nur „bürgernäher“ oder gar demokratischer, sondern auch viel stärker dem Einfluss organisierter Interessen ausgesetzt sei; sprich: manipulierbar. Zudem führe der Ansehensverlust der professionellen Politiker zu einer geradezu „demokratiebedrohenden“ „Krise der politischen Öffentlichkeit“. Kurzum: Bussemer plädiert für eine Wiederbelebung des Diskurses über den Wert der Demokratie an sich.
Alle kennen den „Wutbüger“ – David Bebnowski begibt sich nun auf die Suche nach seinem Konterpart, dem „Spaßbürger“. Schließlich sei „Wut“ bei vielen Protestaktivitäten doch nur die eine Seite der Medaille, die andere bestehe aus positiven Emotionen wie Freude und Begeisterung. Kurz: Welche Rolle spielt der Spaß beim Protest? Nach einem kurzen historischen Rückblick widmet sich Bebnowski der „Hedonistischen Internationale“ (HI), einem aktionistischen Zusammenschluss, der sich das Spiel mit Satire und Ironie auf die Fahnen geschrieben hat. Politische Forderungen lassen sich dort mal mehr, mal weniger explizit erkennen; das gesamtgesellschaftliche Ziel lautet: „Freiheit und Genuss für alle“. Mit diesem offensiven Bekenntnis zum Hedonismus sowie der stets ironischen Haltung charakterisiert Bebnowski die HI als Kind des gegenwärtigen Zeitgeists und verknüpft sie mit der „ironischen bis sarkastischen Einstellung gegenüber dem desillusionierenden
Primat der Ökonomie über die Politik“.
Paul Dekker und Josje den Ridder erkunden, wie sich die Niederlande – die in Deutschland lange Zeit als tolerantes und progressives Land galten, dessen besonnene und vernünftige Einwohner zivilisiert miteinander umgingen und wo etwaige Konflikte Dank des sog. „Poldermodells“ konsensträchtig gelöst wurden – verändert haben. Inwiefern haben der rasante Aufstieg des Rechtspopulisten Pim Fortuyn, seine Ermordung, der Erfolg seiner Partei, der LPF (Liste Pim Fortuyn), sowie der Siegeszug weiterer rechtspopulistischer Parteien, zuletzt der Partei der Freiheit von Geert Wilders, ein neuartiges, misstrauensgesättigtes und feindseliges gesellschaftliches Klima in den Niederlanden entstehen lassen? Kurzum: Es geht um das politische Unbehagen in den Niederlanden, seine Ursachen und etwaige Folgen.
Der Journalist Rainer Wandler hat mit Aktivisten aus Tunesien, Spanien und den USA gesprochen und schildert, welche Erfahrungen sie bei den jüngsten Protesten gemacht haben. Welche Rolle spielten z.B. soziale Medien beim Arabischen Frühling, warum gehen bei den europäischen Protesten vorwiegend junge Akademiker auf die Straße und wer sind eigentlich die „99%“ von Occupy Wall Street?
Peter Filzmaier und Ruud Koole debattieren, ob es sich bei der klassischen Parteimitgliedschaft um ein Auslauf- oder Erfolgsmodell handelt. Während Filzmaier konstatiert, dass das veränderte Partizipationsvorlieben den Anschluss an eine Partei habe reizlos werden lassen, argumentiert Koole, dass potenzielle Neumitglieder zwar veränderte Ansprüche an die eigenen Möglichkeiten der Parteiarbeit hätten, das Modell „Mitgliedschaft“ dadurch aber keineswegs überkommen sei und Parteimitgliedschaften nach wie vor einen gewichtigen Anteil am Gelingen der Demokratie hätten.
Peter Filzmaier und Ruud Koole debattieren, ob es sich bei der klassischen Parteimitgliedschaft um ein Auslauf- oder Erfolgsmodell handelt. Während Filzmaier konstatiert, dass das veränderte Partizipationsvorlieben den Anschluss an eine Partei habe reizlos werden lassen, argumentiert Koole, dass potenzielle Neumitglieder zwar veränderte Ansprüche an die eigenen Möglichkeiten der Parteiarbeit hätten, das Modell „Mitgliedschaft“ dadurch aber keineswegs überkommen sei und Parteimitgliedschaften nach wie vor einen gewichtigen Anteil am Gelingen der Demokratie hätten.
Die Wählerschaft, so lautet gewöhnlich die Diagnose, bindet sich nicht mehr an bestimmte Parteien; wer seine Stimme heute der einen Partei gibt, votiert morgen für eine andere. Klassischen Parteihochburgen entzieht eine solche Volatilität den Boden. Christian Werwath sucht in seinem Beitrag dennoch Hochburgen der im Bundestag vertretenen Parteien auf. Was zeichnet die Parteiverbände in jenen Gebieten aus, in denen sie über lange Zeiträume hinweg überdurchschnittliche Ergebnisse erzielen? Wodurch begründen sich Stabilität und Stärke? Und lassen sich Unterschiede ausmachen zwischen den verschiedenen Hochburgen, die Prognosen für die Zukunft erlauben?
Ausgehend von der Feststellung eines gewachsenen Selbstbewusstseins der Bürger gegenüber den Parteien fordert Oliver D’Antonio in seiner Analyse die Parteien dazu auf, lokale Bündnisse mit zivilgesellschaftlichen Initiativen zu schließen. Nur dadurch, so analysiert er am Beispiel des Leipziger Bürgerentscheids gegen die Privatisierung der Stadtwerke von 2008, könnten sie ihren Einfluss auf kommunale Entwicklungen dauerhaft aufrechterhalten. Anders formuliert: Die „Angst vor der Straße“ nicht zu überwinden, würde bedeuten, selbst die Axt anzulegen an die eigenen Wurzeln in die Gesellschaft hinein.
Die Linkspartei ist Christdemokraten ein Graus. 1994 und 1998 bestritt die CDU die Bundestagswahlkämpfe mit Kampagnen gegen „Rote Socken“ und „Rote Hände“. Dass die Verhältnisse auf kommunaler Ebene aber durchaus ganz anders gelagert sein können und was daraus folgt, das inspiziert Lars Geiges am Beispiel unter anderem der „dunkelrot-schwarzen“ Koalition im Bezirksrathaus von Marzahn-Hellersdorf im Osten Berlins. Und er gewinnt dabei überraschende Erkenntnisse.
Bei der Sozialdemokratie stehen die Zeichen der Zeit nach der Bundestagswahl 2009 auf Reform. Wie vorhergehende Reformkonjunkturen auch speist sich der jüngste Veränderungsimpetus aus einer Krisenerfahrung: dem schlechtesten Wahlergebnis zum Bundestag nach 1945. Und wie es ebenfalls zuletzt zur Regel geworden ist, richten sich die Innovationsenergien zuerst auf die Organisationsstrukturen. Wovon sich die SPD einen Ausweg aus dem Zustimmungstal verspricht und inwiefern die Gewerkschaften dabei ein Vorbild sein können, das zeigt Felix Butzlaff im vorliegenden Beitrag.
„Entern oder kentern“ – mit diesem Gegensatzpaar beschreiben zahlreiche Darstellungen die Perspektiven der Piratenpartei zu Beginn des Jahres 2012. Im Unterschied dazu sieht Alexander Hensel in seiner Analyse die Piraten in einem „stabilen Dazwischen“. Hensel beschreibt sie als „nicht-etablierte Kleinpartei“, die zwar einerseits über den Status als Außenseiter im Parteiensystem einstweilen nicht hinauskommt, andererseits aber dennoch – oder gerade deswegen – thematische und organisationskulturelle Innovationen in den politischen Betrieb einzuspeisen und auf diesem Weg praktische Relevanz zu erringen vermag.
Michael Lühmann präsentiert in seinem Beitrag die Ergebnisse eines Forschungsprojektes des Göttinger Instituts für Demokratieforschung in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung. Unter der Überschrift „Zeitgeisteffekt oder grüner Wertewandel? Die neuen grünen Wähler_innen“ untersucht es die Lebensstile, Zukunftserwartungen und Problemprioritäten mit Blick auf die deutsche Gesellschaft im Allgemeinen und die Anhänger von Bündnis 90/Die Grünen im Speziellen. Auf dem Fundament der Studienergebnisse lassen sich begründete Aussagen darüber treffen, ob die Hausse der Grünen ein rasch vorübergehendes Phänomen oder der Ausdruck eines verbreiteten „Rollback zu ur-grünen Werten“ ist.
Anhand von Kartoffelgrafiken des Sinus-Instituts stellt Tamina Christ, Studienleiterin bei Sinus in der Abteilung Umwelt und Soziales, die Positionsveränderungen der Trägergruppe des Postmaterialismus im gesellschaftlichen Gefüge dar. Sie zeigt, dass sich Denkweisen und Lebensformen des Anfang der 1980er Jahre noch alternativen Randmilieus im Verlauf der Jahrzehnte immer weiter verbreitert haben und das Milieu gleichzeitig in die Mitte gerückt ist. Aus „Außenseitern“ wurden „Meinungsführer“. Avantgardisten aber sind die Anhänger der Grünen nicht mehr, das sind heute vielmehr die Angehörigen eines neuen, des „expeditiven Milieus“.
Der Bundespräsident Christian Wulff ist in die Kritik geraten. Vorgeworfen werden ihm verschiedene Fälle von Vorteilsnahme, begangen in seiner Zeit als Regierungschef in Niedersachsen. Aber was macht aus der Annahme von Gefälligkeiten einen solchen Eklat? Nach welchem Muster laufen Skandale für gewöhnlich ab? Wieso sind gerade soziale Aufsteiger anfällig für moralische Vergehen? Und welchen Politikertypus erfordert das Amt des Bundespräsidenten? Franz Walter gibt hierauf Antworten.
Wie steht es um das Verhältnis von linken Parteien zu ihren Vordenkern? Gibt es aktuell positive Bezüge? Christoph Ruf zieht in seinem Debattenbeitrag über die (anti-)autoritäre Linke ein stark ernüchtertes Fazit. Der Mainstream des Alternativlosen und daraus resultierende Denkverbote, aber auch der geistlose Pragmatismus der Politiker-Elite bis hinein ins linke Lager, lassen linke Intellektuelle, Ikonen gleich, nur im zärtlichen Blick zurück zur Geltung kommen.
Ihrem Selbstverständnis und der Außenwirkung nach sind linke Parteien ausgesprochen basisdemokratisch. In Wirklichkeit aber zeigen sie bemerkenswert autoritäre Charakterzüge, die dem Bild lebhafter Debatten und meinungsfreudiger Vielfalt politischer Positionen widersprechen. Die Ursachen reichen weit in die Vergangenheit zurück, in der die bildungsschwachen Funktionäre bereitwillig den intellektuellen Anführern die Klärung politischer Fragen und die Konzeption von Programmen überließen, die Schöpfung utopischer Szenarien überdies die Urheberschaft einzelner Denker erforderte.