Burgwedel und Bellevue Freundschaftsbündnisse, öffentliche Skandale und das Amt des Bundespräsidenten
Familie Geerkens hat der Familie Wulff einen Gefallen getan. Dies wurde zum beherrschenden Thema um den Jahreswechsel 2011/2012. In der alten rheinischen Bundesrepublik hätte das nicht unbedingt einen solchen Aufschrei ausgelöst. Mindestens in den 1950er Jahren stießen dergleichen Zuwendungen noch auf augenzwinkernde Nachsicht. Konrad Adenauer brachte das auf den Begriff: »Man kennt sich, man hilft sich«. Der erste Bundeskanzler hatte, als Oberbürgermeister der Domstadt, dieses Politik- und Gesellschaftsverständnis im Kölner Klüngel von der Pike auf gelernt. Doch auch sozialdemokratische Kommunalfürsten im Ruhrgebiet konnten lange jederzeit und mit voller Überzeugung in den Adenauer’schen Refrain einstimmen. So gehe es doch, lautete unisono die Überzeugung, seit ewigen Zeiten in der Welt zu: Man nimmt und gibt zurück, man hilft sich und darf im Gegenzug seinerseits auf Unterstützung rechnen. Das sei nun einmal das tragende Prinzip politischer Freundschaften, die Grundlage des gegenseitigen Einvernehmens zwischen Politikern der Macht und Wirtschaftsleuten ökonomischer Potenz. In der Tat: Über etliche Jahrhunderte galten solche Geflechte als ganz natürlich, ja: als unverzichtbar für eine vernünftige Gestaltung jedes ordentlichen Gemeinwesens. Den Freundschaftsbund als sichernden Ausgangspunkt für die Politik belobigte bereits Aristoteles. Und in der griechischen Polis waren solche Bünde allenthalben anzutreffen. Auch die römische Politik war durch einen dichten Klientelismus charakterisiert, der als »amicitia« firmierte. Das System der Freundschaftsallianzen erstreckte sich ebenfalls über die Jahrzehnte des Mittelalters.[1] Der Experte für die Funktionsweise politischer Freundschaften, Vincenz Leuschner, urteilt daher: »In jeder historischen Epoche fanden sich rund um die Mächtigen Kreise dauerhafter persönlicher Beziehungen, die als Unterstützungssystem im Kampf um politische Macht eingesetzt wurden, um Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen, abzusichern oder zu erweitern. Mit politischen Freundschaften verbundene Handlungsweisen, wie die gegenseitige Hilfe oder Schutz, galten lange als Ausdruck politischer Tugend und waren selbstverständlicher Bestandteil politischen Handelns.«[2]
Nur, mit der Aufklärung, mit der Moderne, mit dem Postulat staatsbürgerlicher Gleichheit und Rationalität gerieten die informellen Freundschaftszirkel als Lenker der politischen Macht in Misskredit. Mit dem Anspruch von Demokratie, von Volksherrschaft, von Öffentlichkeit und Diskursen waren die meist im Arkanbereich verborgen operierenden Kleingruppen interessenmäßig verwobener Notabeln schwer kompatibel. Sie verschwanden nicht aus der Politik, sie bildeten weiter bemerkenswert stabile Pfeiler von moderner politischer Macht, wie die lange Kanzlerschaft von Helmut Kohl nachdrücklich bewies. Sie konnten sich mit dem Reputationsgewinn der Kategorie »Netzwerke« auch ein wenig rehabilitieren, durften darauf verweisen, dass in der nicht-hierarchisierungsfähigen modernen Staatlichkeit allein den policy-networks das Management von Komplexität gelingen konnte, dass Freundschaften überdies ein kraftspendendes Refugium für die ansonsten dauerobservierten politischen Eliten bedeuteten. Darin war vieles nicht nur Apologie. Doch im gleichen Zuge wurden immer wieder die Schattenseiten von oft männerbündischen, durch reziproke Leistungszusagen verschworenen Gemeinschaften hinter den Kulissen des öffentlich gespielten politischen Theaters ruch- und skandalisierbar. Die politische Freundschaft und die politische Patronage waren nicht selten Zwillingsgeschwister, die schlimmstenfalls in der politischen Korruption aufgingen. Das bildete dann regelmäßig den Auftakt des Skandals.
Im Skandal pflegte sich stets eine Differenz zwischen der Normerwartung der Bürgermehrheit und der realen Handlungsweise herrschender Gruppen auszudrücken. Mit der wachsenden Bedeutung der Medien wuchs zugleich die Zahl der durch sie öffentlich ausgetragenen Skandale, da Enthüllungen und Entrüstungen auf dem Markt von Kommunikation und Unterhaltung hohe Prämien abwarfen.[3] Doch durfte die Skandalisierung zeitlich nie zu weit getrieben und zu häufig in Gang gesetzt werden, da sonst das Interesse des Publikums abfachte.[4]
Wohl dosiert angewandt aber durfte man mit den vitalen Interessen der lesenden und schauenden Konsumenten medialer Angebote für den Fall rechnen, dass einzelne Figuren zunächst strahlten, hoch aufstiegen, sich dann in Widersprüchen verfingen, den falschen Umgang pflegten, dem Mammon erlagen und die Ideale verrieten, gar in den begründeten Verdacht der Korruption gelangten. Die Entzauberung früherer Lichtgestalten übte eine schauerliche Faszination aus auf diejenigen, welche sozial weit von den Stars in Gesellschaft, Wirtschaft und nicht zuletzt in der Politik entfernt ansässig waren.[5] Je stärker die Politik über die zuwendungsstaatlichen Regelungserwartungen und -ansprüche, durch Macht und Alimentationen, in die Gesellschaft eingriff, desto mehr Möglichkeiten beziehungsweise Versuchungen still erteilter Gefälligkeiten reziproker Art entstanden, sodass sich Systeme des Klientelismus, nicht-legitimierter Interessennetzwerke, auch des Nepotismus bilden konnten.[6] Allerdings scheint es auch ein anthropologisches Bedürfnis nach einem Ventil des Skandals zu geben, neben der wohl funktionellen Notwendigkeit, über Skandale in regelmäßigen Abständen Licht in die Dunkelkammern der verschwiegenen Vereinbarungen zwischen den Regenten zu bringen und die Kluft im Wertehaushalt einer Gesellschaft zwischen oben und unten stärke zu schließen. Skandale werden inszeniert. Und das geschieht durchweg nach dem Muster des Bühnenstücks, das Schurken und Helden kennt, Aufstieg, Ruhm und Fall darstellt.[7] Bevor der Skandal ausbricht, genauer: durch Enthüllungen aparter Fehltritte erst zu einem Ereignis wird, existiert eine Phase der Latenz, in der einige oder mehrere Personen bereits längst in Kenntnis sind über das, was später Gegenstand allgemeiner Empörung wird. Aber erst die geeignete Konstellation, der richtige Moment und dann das zielstrebige Werk professioneller Enthüller, Informationsjäger und Kreuziget-ihn-Rhetoren, freundlicher formuliert: energischer Aufklärer transformieren die Kolportage oder das vagabundierende Gerücht zum handfesten Skandal.[8] Mündet im Fortgang die primäre Enthüllung in eine ausgedehnte Choreografie des Bannfluchs und geraten gleichsam tagtäglich immer mehr diskreditierende Hinweise an das Tageslicht, dann kann die Dynamik des Skandals den Schurken im Drama ins Wanken, schließlich zu Fall bringen. Der Vorhang fällt, der Skandal hat seinen Abschluss gefunden. Man wird sich wiedersehen, beim nächsten Stück.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2012| © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2012