Peter Graf Kielmansegg zufolge sind Zäsuren „abrupte ereignisbestimmte Brüche“, die „den Zeitstrom der Geschichte gliedern“. Vielfach handelt es sich bei ihnen aber um Konstruktionen, wenn sie auch gut begründbar sein mögen. Ebenso prägend für den historischen Verlauf sind schleichende Wandlungsprozesse, ist die Vermischung von Neuerungen und Traditionsüberhängen, mithin die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Inwiefern die Datierung von Zäsuren vom Ort des Betrachters abhängt, weshalb die jüngste Entwicklung der EU eher keinen fundamentalen Einschnitt darstellt und warum er die Digitalisierung als die „tiefste lebensweltliche Zäsur in den achtzig Jahren meines Lebens“ erfährt – über all das spricht Graf Kielmansegg in diesem Interview.
Daniel Fulda widmet sich in seinem Beitrag Reinhard Kosellecks diskursgeschichtlichem Konzept einer Sattelzeit der westlichen Moderne, verortet am Übergang von 18. zum 19. Jahrhundert. Einzelne Befunde Kosellecks werden kritisch hinterfragt, um anschließend auszuloten, inwiefern gegenwärtigen Entwicklungen Sattelzeitcharakter zugesprochen werden kann.
Gerd Koenen verwirft in seinem Parforceritt durch die Revolutionsgeschichte etliche vermeintliche Gewissheiten des Alltagsverständnisses über politische Umwälzungen. Weder handelt es sich bei ihnen um das von allen Traditionsüberhängen befreite radikale Neue; noch entwickeln sie sich entsprechend der planvollen Absichten der jeweiligen Revolutionäre. Und überhaupt ist die russische Oktoberrevolution nicht die mustergültige Revolution, als die sie allerorten gilt. Kurzum: Was Koenen zu ergründen sucht, ist das Auratische, das Faszinosum, die Doppeldeutigkeit von Revolutionen, ist jenes, das „in einer reinen Fortschritts-, Emanzipations- oder Modernisierungsperspektive nicht aufgeht“.
Jeweils ein halbes Jahrhundert liegt zwischen den Jahren 1873, 1923 und 1973, deren tiefgreifenden politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen Franz Walter in seinem Beitrag seziert und analysiert. Dieser Zyklus von fünfzig Jahren unterteilt die Zeitkontinuität und ermöglicht einen Blick auf jene Jahre, die einem Bruch mit dem bisher Bekannten bedeuteten und die deutsche Geschichte prägten.
Auf die Denkwürdigkeit des aktuellen Jahres, 2018, verweist der Historiker und Politikwissenschaftler Alexander Gallus, indem er in das Jahr 1918 blickt. Mit dem Kriegsende im Rücken verbreitete dieses Jahr nicht nur Zusammen- oder Abbruchstimmung, sondern bedeutete für viele auch ein Aufbruch in eine positivere Zukunft. Dass dies bei weitem nicht gelang, zeigt die Entwicklung der folgenden Jahre. Um diese zu verstehen, analysiert Gallus den Herbst 1918, die Novemberrevolution und ihren Einfluss auf die deutsche Geschichte und Gesellschaft.
In ihrem Beitrag beleuchtet die Historikerin Katharina Trittel nicht nur die Arbeit und Forschung des Flugmediziners Siegfried Ruff in der NS-Zeit, sondern zeichnet dessen Werdegang in der Bundesrepublik nach. Sie analysiert sowohl das Verhalten der Ärzteschaft während der Nürnberger Prozesse als den späteren Umgang mit diesen und im speziellen mit Siegfried Ruff. Dabei drängt sich die Frage auf, wie Kontinuitäten nach 1945 überhaupt weiter bestehen konnten.
Der Historiker Lutz Raphael argumentiert in seinem Beitrag, dass das Jahr 1945 als Zäsur in allen Geschichtskulturen weltweit präsent sei. Ausgehend von den Bedeutungsebenen und Dimensionen des Zäsurenbegriffs skizziert er, wie das Kriegsende im Jahr 1945 und die danach folgenden Ereignisse zu einer Verdichtung und Synchronisierung von unterschiedlichen Tendenzen auf nationaler, europäischer und globalgeschichtlicher Ebene geführt haben.
Eckhard Jesse resümiert die aktuelle Auseinandersetzung mit dem langen Jahr 1968 und ordnet die Ereignisse vor 50 Jahren in Abgrenzung zu den Umwälzungen von 1918, 1933, 1945 und 1989/90 als „Binnenzäsur“ in die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert ein. Er legt Paradoxien der 68er offen und widmet sich der Perspektive des Ostens der geteilten Republik auf 1968 wie auch dem Vergleich mit der dort erstrittenen „Großzäsur“ 1989.
Während das Jahr 1968 als wichtiger Wende- und Kristallisationspunkt in Westdeutschland ausgiebig erforscht worden ist, gestaltet sich eine zeitgeschichtliche Aufarbeitung im östlichen Teil der heutigen Bundesrepublik weitaus schwieriger. Michael Lühmann zeichnet nach, warum das Jahr 1968 in der DDR zu keinem Erinnerungsort geworden ist und fragt nach einer Generation der Ost-68er. Zudem argumentiert er, dass das Ausbleiben der 68er-Revolte und die fehlende Aufarbeitung der NS-Zeit in der DDR dazu beigetragen haben, die Offenheit rechten Denkens in den neuen Bundesländern zu befördern.
In seinem Beitrag stellt Maurice Cottier die unterschiedlichen Ansichten der beiden Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman und John Kenneth Galbraith vor. Während Friedman vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise in den 1970er Jahren an der postkeynesianischen, neoliberalen Wende mitwirkte, einer wirtschaftspolitischen Zäsur also, geriet Galbraith vergleichsweise in Vergessenheit, nachdem beide Ökonomen in den 1950er Jahren noch ähnlich diskursmächtig gewesen waren. In Galbraiths Konzept der technostructure kam Managern und Ingenieuren eine große Bedeutung für den Markterfolg eines Unternehmens zu; überwiegende Investitionen in den privaten Sektor wurden als Gefahr für den öffentlichen Bereich betrachtet; und dem Staat kam eine Schlüsselrolle für die Schaffung von Wohlstand zu.
Als auf ideengeschichtliche und sozioökonomische – vermeintliche und/oder tatsächliche – Zäsuren spezialisierter Chirurg operiert Esposito am offenen Herzen des omnipräsenten, insbesondere geschichtstheoretischen Problems von Temporalität und Geschichte. Um seine Ausgangsbeobachtung, wonach sich die sozialen, politischen und ökonomischen Verwerfungen unserer Gegenwart aus der bereits geronnenen, d.h. historisierten Zeit von ca. drei Dekaden seit Ende der 1960er Jahre („nach dem Boom“) verstehen lassen, auszuführen, be- und hinterfragt Esposito schlaglichtartig einerseits akademische Konzepte wie etwa Strukturbruch, Zäsur, Moderne, Postmoderne bzw. deren theoretische Gewährsleute und Kritiker; andererseits blickt er auf die veränderten, zunehmend fortschrittsskeptischeren lebensweltlichen, sozialen und politischen Bedingungen. Er unterzieht recht eigentlich die „Zäsurdenkenszäsur“ „nach dem Boom“ einer neuen Zäsur, die nichts weniger ist als eine Kritik der Zäsur.
Hilal Sezgin sieht in der Wahl Donald Trumps und der Flüchtlingskrise bedeutsame Zäsuren unserer Tage. Sie fragt nach den Möglichkeiten und den Hürden für moralisches und „richtiges“ Handeln in diesen Tagen.
Wilfried von Bredow beschreibt 1968 als ein eher enttäuschtes Innehalten. Der Wandel habe 1968 bereits sein Charisma verloren, das es in den Jahren zuvor vorhanden war. So betrachtet von Bredow Adornos "Jargon der Eigentlichkeit" von 1964 als eine Veröffentlichung, die dieses Charisma ausstrahlte. Denn Adornos Sprachkritik, seine ätzenden Bemerkungen trafen den Nerv der aufmüpfigen akademischen Jugend. Adorno wollte im deutschen Sprachverhalten eine spezifische "deutsche Ideologie" aufdecken und sein Unbehagen darüber öffentlich ausdrücken, was ihm aber eher misslang, wie von Bredow findet. Seine Kritik bleibe "im Kern elegische bildungsbürgerliche Schelte für die selbstgerechte Prätention von post-nationalsozialistischer Normalität".