1873 – 1923 – 1973 Krisendramen im 50-Jahre-Takt?

Von Franz Walter

Mittlerweile winken die meisten Sozialwissenschaftler, Ökonomen und Historiker süffisant ab, wenn in einer Debatte von historischen Zyklen die Rede ist. Anfangs reagierten die diversen Wissenschaftsdisziplinen und publizistischen Kommentatoren noch elektrisiert, als 1926 der russische Ökonom Nikolai Dmitrijewitsch Kondratjew seine Entdeckung von den langen, rund ein halbes Jahrhundert währenden Wellen in der wirtschaftlichen Entwicklung der industriell-kapitalistischen Welt publik machte.[1] Dass sich die Geschichte der von Menschen organisierten Produktion und Handelsbeziehungen ähnlich wie seit ewigen Zeiten die Natur nach einem festen Rhythmus vollziehe, dass auch hier die Sonne am Morgen den Tag eröffne, um die Mittagszeit im Zenit stehe und mit der Abenddämmerung das Ende des Tages einläute, klang für viele nachgerade beruhigend, dabei durch und durch plausibel, da es den Alltagserfahrungen entsprechend erklärte, was sonst so fern, unüberschaubar, bedrohlich geheimnisvoll geblieben wäre. Der gesellschaftliche Gang ließ sich mit den Schrittfolgen der Natur parallelisieren.[2] Hier wie dort lösten sich offenkundig Frühlingsgefühle und Herbstmelancholien, Aufbrüche und Erschöpfungen, öffentliches Engagement und privater Rückzug in verlässlicher Regelmäßigkeit ab. Die Ökonomie determinierte die konjunkturellen Zyklen, die dann gleichwohl in die anderen Bereiche von Staat, Politik und Kultur hineinragten.[3]

Doch rückte innerwissenschaftlich bald die Skepsis an die Stelle der Sympathien für solche Erklärungsmodelle – gewissermaßen ganz im Sinne des Zyklus, dessen Existenz nun angezweifelt wurde.[4] Die universitären Ökonomen stellten die Methodik ihres russischen Kollegen in Zweifel, monierten die mangelnde empirische Validität seiner Aussagen. Fortan galten Zyklenparadigmen als pure geschichtstheologische Spekulationen, bei denen man unmittelbar an den unglückseligen Oswald Spengler dachte, für den sich Kulturen bekanntlich stets im schematischen Ablauf von Wachstum, Blüte und Zerfall ereigneten, weshalb er nach dem Ersten Weltkrieg den »Untergang des Abendlandes« in seinem während der 1920er Jahre im deutschen Bürgertum ungeheuer einflussreichen Bestseller prognostizierte.[5] [...]

Anmerkungen

[1] Siehe Nikolai D. Kondratjew, Die langen Wellen der Konjunktur, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 56 (1926), S. 573–609.

[2] Vgl. Ludolf Herbst, Komplexität und Chaos. Grundzüge einer Theorie der Geschichte, München 2004, S. 137.

[3] Vgl. Arndt Hoffmann, Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. Mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte, Frankfurt a. M. 2005, S. 190.

[4] Siehe Manfred Neumann, Zukunftsperspektiven im Wandel, Tübingen 1990, S. 20 f.

[5] Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1963.

Seite ausdrucken Beitrag bestellen

Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2018 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018