Editorial

Von Matthias Micus  /  Michael Lühmann

Leben wir in einer Wendezeit, sind wir Zeugen einer gesellschaftlichen Umbruchsituation, einer Zäsur? Die Rasanz sozial-kultureller Wandlungsprozesse und die offenkundig grassierenden Verunsicherungen sowie fundamentalen Krisenerscheinungen – von der Finanz-, Schulden-, Euro- und Klima-Krise bis hin zu den Migrationsbewegungen – scheinen eine solche Diagnose nahezulegen.

Denn wenn von Zäsuren gesprochen wird, impliziert dies zumeist eben das: die markante Beschleunigung gebündelter Wandlungsprozesse, deren Auswirkungen die Lebenswirklichkeiten ubiquitär erfassen – und die, da die rapide Entwertung des Gewohnten einem verbreiteten Bedürfnis nach Orientierungssicherheit zuwiderläuft, von den Zeitgenossen vielfach als Krise wahrgenommen werden. Zugleich markieren Zäsuren aber auch rückschauend gedachte Höhe- und Wendepunkte, die nicht nur Erinnerung strukturieren, sondern auch Erinnerungsgemeinschaften formieren können – die Generation der 68er, ob Konstrukt oder nicht, ist wohl der prominenteste Ertrag solcher Bündelung von erlebten Brüchen, kulminierenden Entwicklungen und generationellen Konflikten.

Als »abrupte ereignisbestimmte Brüche« (Kielmansegg) verbinden sich Zäsuren für gewöhnlich mit datierbaren Ereignissen: dem Anschlag auf das WTC am 11. September 2001 etwa, dem Zusammenbruch der Großbank Lehman Brothers am 15. September 2008 als Auslöser der Banken- und Finanzkrise oder dem 23. Juni 2016, als die Mehrheit der britischen Wähler für den »Brexit« stimmte.

Schließlich ist das Jahr 2018 voll von Jubiläen, die auf historische Ereignisse verweisen, von der Frühen bis in die Neueste Neuzeit, und mit denen sich ebenfalls epochale gesellschaftliche Umbrüche verbinden: vom Dreißigjährigen Krieg 1618–48 über die Revolutionen von 1848 und 1918 bis hin zum Gipfeljahr der Außerparlamentarischen Opposition (APO) 1968. Auch das Gedenkjahr 2018 – und nicht allein die schiere Gegenwart – legt folglich eine Beschäftigung mit dem Thema Zäsuren nahe.

Zäsuren stellen die so beliebte wie umstrittene Frage nach der Einmaligkeit von Geschichte, nach transnationaler Weite und nationalem oder regionalem Sonderweg, damit verbunden zugleich aber auch jene gegenläufige nach der Wiederholbarkeit von Geschichte, nach Lehren aus dieser. Wobei sich ganz zweifellos aus der Nähe zu einem zum Wendepunkt erklärten Ereignis ebenso wie aus der Permanenz eines tiefgreifenderen Wandels – soziale Entsicherung, aufkommender Klimawandel, eine Welt in Bewegung – einschneidende Daten verflüssigen können. Letztlich bleibt ein Ereignis vor allem dies: ein bloßes Ereignis.

Überhaupt werden Historiker mit gutem Recht einwenden, dass die Vorstellung von scharfen Schnitten, die den Geschichtsverlauf in aufeinanderfolgende Perioden einteilen, die in sich homogen seien und mit den vorangegangenen ebenso wie den nachfolgenden Zeitstrecken nichts gemein hätten, illusorisch ist. Es gibt den Augenblick nicht, der alles anders macht. Jedes Danach ist mit dem Davor durch eine Vielzahl von Kontinuitätsüberhängen verbunden – dies gilt bei aller einleuchtenden Schärfe selbst für jene harten Zäsuren wie das Kriegsende 1945 oder die Revolutionen, Um- und Zusammenbrüche in der DDR und in Osteuropa in den Jahren 1989 ff.

Identitäten und Mentalitäten, Normen, Zugehörigkeiten und Bedürfnisse sind zählebig und überdauern auch die gelegentlich abrupten Wechsel auf der politischen Ebene von Verfassungen, Institutionen und Parteien. Insofern folgerichtig betont insbesondere die Sozial- und Kulturgeschichte eher die langen Kontinuitätslinien. Die Frage nach der Sattelzeit oder gar Sattelzeiten, nach Moderne und Modernen, Verheißung und Niedergang vermag in diesem Zusammenhang Zäsuren als abrupten Wandel zu relativieren, graduelle kulturelle Wandlungen zu betonen – und doch zugleich Zeiten von langer Dauer, mehrere Dekaden übergreifend, zu konturieren, nach denen (fast) nichts mehr ist wie vorher.

Denn auf die Idee, im Umkehrschluss solche Aspekte der Beständigkeit absolut zu setzen und das ewige Weiterleben des einmal Bestehenden zu postulieren, käme auch kein Vertreter der genannten sozial- und kulturgeschichtlichen Forschungsansätze. Gleichermaßen unsinnig wäre die Behauptung, der Strom der Entwicklung flösse in einem unabänderlich konstanten Tempo den Fluss der Geschichte hinab. Es gibt Unstetigkeiten, welche die Fließgeschwindigkeit beschleunigen oder drosseln. Das Flussbett ist mal breiter, dann wieder enger; das Gefälle variiert; hier und dort führt ein Hindernis zu Verwirbelungen und bremst den Lauf des Wassers. Und auch der Mensch selbst beeinflusst seine eigene Geschichte durch Flussbegradigungen und Flächenversiegelungen, Dämme, Schleusen oder auch Renaturierungsmaßnahmen.

Auch kulturell wirksame und eher prozesshafte Transformationsphänomene verdichten sich bisweilen, wie das aktuell mit Blick auf die Digitalisierung und die Globalisierung zu beobachten ist, die im Übrigen den Eindruckunterstützen, dass unsere Zeit ihren Fuß in historisches Neuland setzt, wobei die Tragweite dieses Schrittes womöglich den Vergleich mit früheren Einschnitten und Umbrüchen nicht zu scheuen braucht.

Jenseits immer mitgegebener Kontinuitäten finden Zäsuren also als Kontinuitätsbrüche Eingang in das kollektive Gedächtnis sowohl der Zeitgenossen als auch – und nicht selten: insbesondere – der retrospektiv die Zäsuren betrachtenden Nachgeborenen.

Die vorliegende Ausgabe von INDES blickt vor diesem Hintergrund in ihrem Schwerpunkt unter dem Titel »Zäsuren« auf solche Zeiträume, Momente, Ereignisse, in denen sich der mähliche Gang der Geschichte plötzlich beschleunigt, bisweilen abrupt ab- oder unterbricht, untergründige Entwicklungen an die Oberfläche durchbrechen, sich die losen Fäden des Wandels zu manifesten Trends verweben und in der allgemeinen Wahrnehmung der Zeitgenossen neue Zeiten anbrechen, zugleich alte vergehen, nicht selten verbunden mit heftigen Deutungskämpfen.

Allein die jüngere deutsche und deutsch-deutsche Geschichte verhandelt nahezu jede der großen Zäsuren in heftigen gesellschaftlichen, publizistischen und wissenschaftlichen Konflikten. Ob die Dolchstoßlegende, welche die Debatte um die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg vergiftete; Weizsäckers 1985 gehaltene Rede zum Kriegsende 1945 als »Tag der Befreiung«, die lange bekämpft wurde; die derzeit heftig geführte Debatte um 1968 und dessen Folgen; oder die Frage nach Revolution oder Wende, nach Einheit oder Anschluss 1989/90: Zäsuren sind auch immer Vehikel der teils heftigen, bisweilen konfrontativen Verständigung über das Vergangene.

Dass die Verständigung über das Vergangene nicht abgeschlossen ist, dies zeigt nicht zuletzt die vorliegende Ausgabe der INDES. Wir wünschen Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, viel Vergnügen bei der Lektüre.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2018 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018