Ausgehend von einem Nachdenken über einen seiner entscheidenden Lehrer, Ernest Mandel, geht Robert Misik den Entwicklungen linken Denkens nach, an deren Ende die Erkenntnis steht, dass wir alle postmoderner seien, als wir glauben würden.
Detlef Lehnert spürt in seinem Text zur „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ Dynamiken und Paradoxien von Generationen im 20. Jahrhundert nach und erschließt dabei einen Zeit- und Debattenbogen von der Weimarer Republik bis zum Brexit.
Wilfried von Bredow benennt vier Dimensionen der Ungleichzeitigkeit, die veranschaulichen, dass dieses Phänomen ein Bestandteil unerer Normalität, unseres Alltags ist.
Thomas Welskopp betrachtet die frühe Arbeiterbewegung als eine „Verarbeitungsmaschine des ‚Ungleichzeitigen‘“, die in ihren verschiedenen Strömungen auch den strukturellen Anachronismus abbildet, der dem Entwurf der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen immanent ist. Am Gebrauch und an der Ausgestaltung der Begriffe „Revolution“ und „Organisation“ in der frühen Sozialdemokratie weist Welskopp den hybriden Charakter der Gleichzeitigkeitskonzeption nach. Vormoderne Kategorien, aber eben auch zukunftsweisende Konzepte wurden miteinander verwoben, wodurch – und an dieser Stelle verwirft Welskopp Ernst Blochs Grundlegung – mobilisierende alternative „Erzählungen der heraufziehenden Moderne“ formuliert werden konnten.
Ist das Scheitern der Europäischen Union wirklich möglich geworden? Und wenn ja: Warum nach sieben Jahrzehnten, die man doch als beispiellose Erfolgsgeschichte erzählen könnte und auch oft erzählt hat? Die europäische Krise skizzierend, nach deren Kern fragend und sie historisch einordnend, entwirft Peter Graf Kielmansegg einen Ansatz jenseits des „Projektes Europäische Einigung“ im bisherigen Stil.
„Wir alle sind Ungleichzeitige“, konstatiert Thomas Schmid in seinem Beitrag und verweist damit auch auf die in seinen Augen dem Konzept der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen innewohnende Banalität. Doch bemerkt Schmid davon ausgehend, dass sich etwas verändert habe: Die Zeit sei nicht mehr das Kriterium. Die technologisch und digitale Revolution habe sie eingeebnet. Auch die Möglichkeiten, Unterscheidungen überhaupt vorzunehmen, seien nicht mehr in einem Ausmaß vorhanden wie früher. Alles ist immer gegenwärtig. Schmid schreibt: „Die Welt ist so mit koexistierender Gegenwärtigkeit vollgestopft, dass schwerfällt, dieses für gut, jenes für schlecht […] zu erklären.“ Am Gegenstand Europas und der Europäischen Union bringt der Autor in der Folge die Idee der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zum Test. Er entwirft ein recht pessimistisches Bild: „Es kann nicht Gutes aus der EU werden, wenn sie diese Unterschiedlichkeit für ein Defizit hält, das es zu beheben gilt.“ Europa bestehe aus vielen Ungleichzeichtigkeiten, die man nicht begradigen solle, sondern auf die institutionell reagiert werden müsse. Dies sei überhaupt erst die Voraussetzung, um sich sodann Fragen des Fortschritts und der Entwicklung zuzuwenden.
Franziska Augstein rückt »die Zeit« ins Zentrum ihrer Betrachtung. Sie schaut dabei zum einen auf verschiedene politisch-gesellschaftliche Momente der jüngeren Vergangenheit, in denen die Zeit das Tempo wechselte, und entwirft überdies entlang etlicher Verweise auf die Literatur und Philosophie ein überaus ambivalentes Bild der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen hinsichtlich des Faktors Zeit. Es mache »Freude, wenn man sie philosophisch betrachtet oder einfach in einer Welt der Phantasie. In der internationalen Politik hingegen ist sie ein Faktum, das zu bedenken ist«, resümiert Augstein.
Moshe Zuckermann beschreibt in seinem Text, wie Religion und Politik im modernen Staat Israel zusammenspielen. Insbesondere geht er der Frage nach, wieso und auf welche Weise der ursprünglich areligiöse Zionismus religiös aufgeladen wurde bzw. werden konnte.
Der Begriff Feudalismus stellt eine vormoderne Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung dar, Karl Marx zufolge die Vorstufe des Kapitalismus. Feudalisierung und Modernisierung bilden insofern einen Gegensatz. Nicht so für Sighard Neckel, der die gesellschaftliche Dynamik der Gegenwart durch „Refeudalisierungsprozesse“ gekennzeichnet sieht. Modernisierung, so Neckel, vollziehe sich mittlerweile als Bruch mit den Prinzipien einer modernen Sozialordnung. Der aktuell vorherrschende Modus sozialer Transformation lasse im Zuge des neoliberalen Umbaus von Wirtschaft und Gesellschaft überwunden geglaubte vormoderne Sozialformen und Rangordnungen entstehen.
Im Blick zurück und nach vorn geht Frank Lübberding, das Verhältnis von Sozialdemokratie und katholischer Kirche in der Nachkriegssozialdemokratie zum Ausgangspunkt nehmend, der Frage nach, was dieses Verhältnis heute klärend beitragen kann im Hinblick auf den Umgang mit dem Islam in der Bundesrepublik, in einer Zeit, in der es zwar nie ein größeres Desinteresse an der Religion gegeben habe, als dies heute der Fall sei, so Lübberding, Religion aber trotzdem in aller Munde ist – sobald es den Islam betrifft.
Karin Priester zeigt, dass die Pluralisierung religiöser Angebote nicht notwendig – wie von führenden Aufklärern theoretisch erwartet – in eine weltanschaulich abgerüstete, tolerante und liberale Religionspraxis münden muss. Ebenso gut wie eine tendenzielle Vergleichgültigung religiöser Inhalte kann diese Entwicklung das diametrale Gegenteil in Form messianischer Erlösungsreligionen hervorbringen. Desgleichen bestehen apokalyptische Erwartungen in der vernunftbasierten Moderne als ihre irrationale Schattenseite fort, seit den 1970er Jahren sogar verstärkt. Struktur, Wirkungen und Brisanz des Spannungsfeldes zwischen Messianismus, Moderne und Apokalyptik analysiert der vorliegende Beitrag am Beispiel des islamischen Fundamentalismus.
Christian Starck analysiert in seinem Beitrag die Setzung sowie Anwendung von Recht, die er durch das Zusammentreffen von abstrakter Norm und konkreter Wirklichkeit charakterisiert sieht. Die in der gesetzten Norm verkörperten Gebote und Verbote sollen in Zukunft die Wirklichkeit bestimmen. Die Gesetzesanwendung ist insofern stets ungleichzeitig zur Gesetzgebung. Denn die Gesetzesnorm muss erst in Geltung gesetzt und damit bekannt sein, bevor sie angewendet wird. Im Hinblick auf Normsetzung und Normanwendung bedeutet Ungleichzeitigkeit darüber hinaus, und zwar je länger desto mehr, Verlässlichkeit und Gleichheit in der Zeit.
In der Parteienforschung wird im Kontext von party change zumeist von einer linearen Entwicklung ausgegangen. Elmar Wiesendahl erläutert, wie sich die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« gewinnbringend für die Politikwissenschaft einsetzen lässt, um den Wandel von Parteien zu erklären. Denn Neues löse Altes nicht einfach ab, vielmehr bestünde beides gleichzeitig fort. Zudem illustriert der Autor die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in gegenwärtigen Parteien anhand der Parallelität von Mitglieder- und Berufspolitikerpartei.
»Zeitbögen«, »1913« oder »1983«: Eckhard Jesse diskutiert die Neigung der Geschichts- und Politikwissenschaft, Periodisierungen vorzunehmen und Zäsurjahre zu identifizieren. Zudem plädiert er für eine »engagierte Politikwissenschaft«.
Fast überall in der Welt vollzieht sich die rechtliche und ökonomische Gleichstellung von Frauen – jedoch in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Stephan Klasen illustriert die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« an den weltweit auseinanderdriftenden Geschlechterbeziehungen.
Jürgen Kaube befasst sich mit historischen Ungleichzeitigkeiten: mit Prozessen, die zwar synchron ablaufen, jedoch nicht zusammenpassen. Dabei geht es um die Frage, was es heißt, einer Zeit anzugehören.
Warum denken wir in Deutschland bei direkter Demokratie eigentlich vorzugsweise an „Volksgesetzgebung“? Frank Decker geht dieser Frage nach und sieht die Antwort in der historisch gleichzeitigen, jedoch institutionell ungleichzeitigen Durchsetzung einer parlamentarischen Demokratie und weitreichender unmittelbarer Volksrechte im Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik am Ende des Ersten Weltkrieges gegeben. Ein zentrales Problem der Debatte um die direkte Demokratie in Deutschland liegt für ihn darin, dass es den Protagonisten in Abhängigkeit zu dem damals eingeschlagenen Entwicklungspfad an der Bereitschaft mangelt, die Unhaltbarkeit des mit der Volksgesetzgebung gegebenen Demokratieversprechens im Rahmen der parlamentarischen Regierungsform offen zuzugeben.