Im Interview mit INDES spricht der Historiker und Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam, Martin Sabrow, über Zäsuren und Kontinuitäten nach 1989. Dabei wird die Frage nach möglichen Perspektiven ebenso aufgeworfen wie die Rolle der Geschichtsdeutung thematisiert.
Von der Zeit verbissener Kämpfe, flotter Formeln und widerstreitender Deutungen zur DDR-Geschichte, von Boom-Phasen, Konjunkturen, aber auch Kuriositäten, neuen Sachlichkeiten und (alten) neuen Pfaden der DDR-Historiografie, berichtet Christoph Kleßmann, einer der profundesten Kenner des Themenfelds, nunmehr aus der kenntnisreichen Beobachterrolle.
Der Beitrag kritisiert die zurückhaltende Erforschung der politischen Wende von 1989 durch die akademische Zeitgeschichte, die aus der Sicht der Autorin einer undifferenzierten Wende-Euphorie einerseits und einer rechtspopulistischen Vereinnahmung der Friedlichen Revolution andererseits Vorschub geleistet hat. Angela Siebold postuliert, dass eine kritische, offene und langfristige Historisierung und Kontextualisierung der Wende solchen einseitigen Deutungsmustern entgegenwirken sollte, was jedoch nur gelingen könne, wenn die professionelle Zeitgeschichtsforschung den Elfenbeinturm verlässt und sich stärker als bislang um die Vermittlung ihrer Forschungsergebnisse gegenüber einer breiteren Öffentlichkeit bemüht.
Welche Rolle spielten Konsummuster und Konsumerwartungen der DDR-Bürgerinnen und -Bürger im Zuge der Revolution von 1989 und in den ersten Umbruchsjahren? Und wie „westlich“ waren diese Konsummuster bereits vor 1989? Clemens Villinger liefert wichtige und für das heutige Verständnis Ostdeutschlands notwendige Einblicke in eine sich nur langsam schließende Forschungslücke – die lange Geschichte der Wende.
Der Beitrag analysiert die rechtspopulistische Referenz auf die friedlichen Proteste in der DDR vom Herbst 1989, die von Bewegungen wie »PEGIDA« als symbolische Ressource einer Fundamentalopposition gegen die liberale Demokratie der Bundesrepublik in Stellung gebracht werden. Ein Grund für den Erfolg dieses narrativen Musters ist die Bedeutungsvielfalt des Volksbegriffs, die bereits während der Friedlichen Revolution ihre mobilisierende Kraft entfaltete: Die Parole »Wir sind das Volk« bedient neben Einheitssehnsüchten auch antielitäre und anti-institutionalistische Gefühlslagen gleichermaßen und gibt damit einem populistischen Politikverständnis Raum. Die antielitäre Dimension des Protests bediente in den Transformationsjahren nach der Wiedervereinigung die Etablierung eines populären Opfernarrativs: Das ostdeutsche Volk, so die Erzählung, wurde zuerst von den kommunistischen Herrschern und danach von den »importierten« West-Eliten betrogen. Dieses in Ostdeutschland weitverbreitete Gefühl einer anhaltenden Benachteiligung wird von Rechtspopulisten derzeit erfolgreich ausgenutzt.
Der Politikwissenschaftler Eckhard Jesse betrachtet die Ereignisse und Entwicklungen während des Zeitraums 1989 bis 1990 und fokussiert dabei sowohl die Persönlichkeiten als auch die Strukturen, um die Wirkungen und Ergebnisse nach 1989 zu erklären.
Dass nicht die alte Bundesrepublik untergegangen sei, sondern die Erneuerung der Nation durch die Revolution von 1989 nicht nur linke Lebensirrtümer widerlegt habe, sondern die Beendigung des Kommunismus auf deutschem Boden vor allem eine erfolgreiche Übernahmegeschichte von Errungenschaften der Bonner Republik sei, zu dieser Deutung kommt Tilman Mayer in seinem Beitrag zu 1989.
Die Rufe nach dem Ende des Westens und seiner Vormachtstellung sind schon seit einiger Zeit zu hören. Ebenso wird das Wiederaufflammen des Kalten Krieges beschworen. Der Politikwissenschaftler Thomas Jäger geht dem in seinem Beitrag nach und analysiert die aktuelle internationale Ordnung, die neue Akteure wie China mit einschließt. Welche Veränderungen haben sich ergeben? Wo verlaufen neue und alte Konfliktlinien? Wer vertritt welche Positionen? Und wo steht die EU?
Driften ehemalige Bürgerrechtler nach rechts? Oder ist diese Annahme verallgemeinert? Markus Decker spürt in seinem Beitrag dem nach, ohne die divergierenden politischen Positionen der Bürgerrechtler aus den Augen zu verlieren. Dabei verweist er sowohl auf die Gedenkstätte Hohenschönhausen als auch auf Gefühlslagen, welche das politische Klima und die Aufarbeitung nach 1989 dominieren.
Helwig Schmidt-Glintzer eröffnet die Perspektive auf 1989 in Richtung China und die Proteste auf dem Tian’anmen-Platz. Der Sinologe legt dabei die Geschehnisse um das Jahr 1989 unter Beachtung der chinesischen Parteipolitik frei, ohne dabei die heutige Aufarbeitung des Blutbads aus dem Blick zu verlieren.
Im Fokus dieses Essays des Historikers Sascha-Ilko Kowalczuk steht die Form der Aufarbeitung von DDR-Geschichte. Er verdeutlicht, dass die Aufarbeitung von Geschichte hier ein politischer Vorgang ist, bei dem die Deutungshoheit im Zentrum steht. Kowalczuk plädiert dabei für eine reformierte Aufarbeitung, die Wissenschaft und Aufarbeitung verbindet.
Eva-Maria Stolberg zieht in ihrem Beitrag eine Bilanz der Politik Michail Gorbatschows. Die Historikerin analysiert dabei die Auswirkung dieser Politik auf die heutige Stellung Russlands; dabei zeichnet sie Entwicklungslinien bis zur aktuellen russischen Politik nach.