»Auf der Abschiedstreppe der postkapitalistischen Alternative« Ein Gespräch mit Martin Sabrow über Zäsuren, Kontinuitäten und die Frage der Perspektive
Herr Sabrow, in diesem Jahr steht mit dem Mauerfall ein besonderes Jubiläum an. Erinnern Sie sich noch, was sie am 9. November 1989 getan haben?
Zunächst: Die Erinnerung verschiebt sich, auch an dieses Datum. Ich unterrichtete zu der Zeit als Studienrat die Fächer Geschichte und Deutsch am Walther-Rathenau-Gymnasium in Berlin-Wilmersdorf. Ich weiß noch, dass ich am Abend des 9. November recht früh und müde zu Bett gegangen bin. Am nächsten Tag stand in meinem Leistungskurs eine Klausur zum »Systemvergleich« an. Dort ging es u.a. darum, inwieweit die in der DDR-Verfassung verbrieften Rechte dem Einzelnen erlaubten, sich auf sie auch gegen Staat und Partei zu berufen. Der Clou war natürlich, dass der Artikel 1 der DDR-Verfassung einer Generalprävention gegen die Einklagbarkeit von individuellen Rechten gleichkam, weil die Rolle der marxistisch-leninistischen Partei dort festgeschrieben war.
Als man mir in der Schule erzählte, die Mauer sei offen und die Verhältnisse wären nicht mehr so wie noch am Abend zuvor, hatte ich den Eindruck, dass meiner Leistungskursklausur gleichsam die Grundlage entzogen worden war. Tatsächlich fand sie auch gar nicht statt; meine Schüler waren ausgeflogen. Ich selbst rief einen guten Freund von der Deutschen Presse-Agentur an und fuhr mit ihm zur Bornholmer Straße an die Mauer. Dort standen wir mit vielen anderen Menschen, die freudestrahlend »von drüben« die Grenze passierten. Wir selbst versuchten ein paar Hundert Meter weiter an einer kleinen Fußgängerbrücke, die bislang nur für die Grenzer bestimmt gewesen war, nach Ost-Berlin zu gelangen, wurden aber von Grenzsoldaten mit vorgehaltener Waffe zwar nicht unfreundlich, aber doch bestimmt zurückgedrängt: »Bürger, verlassen Sie das Territorium der DDR!« Was ich nicht wissen konnte: Ungefähr zur selben Zeit versuchte der Ost-Berliner Parteiapparat die Moskauer Führung per Telefon und Telegramm mit der Behauptung zu beruhigen, dass man die Lage im Griff habe und die eingerissene Mauer alsbald wieder abdichten werde: »Seit heute morgen wird die Ordnung an den Grenzübergängen wiederhergestellt.« In diese Bewegung waren wir hineingeraten und ahnten nur halb, dass der Mantel der Geschichte um uns herum noch heftig weiterwehte: Der freundlich-bestimmte Grenzer verteidigte ein Faustpfand des sozialistischen Weltexperiments, dessen Abbruch das SED-Regime sich bei zeitweiliger Wiederherstellung des »souveränen Grenzregimes« hätte teuer abkaufen lassen können; und ich war in meiner naiven Neugier Teil eines spontanen Zusammenwachsens, das mein DDR-Grenzer an diesem Vormittag auf einem unscheinbaren Steg neben der Bornholmer Brücke noch mühelos abwehren konnte und das als weltgeschichtliche Bewegung dann binnen Wochen die abgeschottete Welt des Staatssozialismus zum lautlosen Verschwinden brachte.
War Ihnen zu diesem Zeitpunkt schon bewusst, dass es sich um einen großen Wendepunkt handelte?
Das doch! Das Reisegesetz, das im Politbüro schon vorbereitet worden war, hatte sehr weitreichende Folgen, die im Grunde genommen dem Mauerfall nicht unähnlich waren, ihn nur eingehegt, vielleicht kanalisiert hätten. Alle Zeichen standen auf Annäherung, Öffnung und Liberalisierung. Gleichzeitig hat wohl kaum jemand, der den 9. und 10. November miterlebte, an das unverzügliche Ende der DDR geglaubt. Mir selbst dämmerte es erst viel später als anderen, nämlich in der zweiten Januarhälfte, dass die Entwicklung tatsächlich auf die Widervereinigung zulaufen könnte, deren Beschwörung ich schon seit Kindesbeinen als hohle Rhetorik zu empfinden gelernt hatte. Der irrige Glaube, dass die in der eigenen Sozialisation vorgefundenen Zustände und Verhältnisse mit Blick auf die Zukunft dauerhafter seien als in der Vergangenheit, pflanzt sich von einer zur anderen Generation fort, und die radikale Veränderlichkeit des Morgen gegenüber dem Heute lag mir als Kind der Wiederaufbauzeit nach 1945 eigentlich außerhalb des Denkhorizontes. Ich war, aus Kiel kommend, nach Studium und Zivildienst in Marburg und Bremen 1979 zum Studienreferendariat nach Berlin gezogen, und mein Vater hatte mich damals nachdenklich gefragt: »Junge, hast Du einmal auf der Karte nachgeschaut, wo West-Berlin liegt?« Hatte ich, fand die Sorge vor einem Untergang des westlichen Vorpostens in der östlichen Hemisphäre aber ganz abwegig. Ich hielt die Verhältnisse, wie ich sie kennengelernt hatte, für stabil. Wie instabil sie tatsächlich waren, konnte mein Vater mit der Erfahrungsgeschichte des 20. Jahrhunderts ganz anders beurteilen als ich. Wir alle benutzen die Matrizen der Erinnerung an die Vergangenheit. Er sah den großen russischen Bären, der alles verschlucken wird: Berlin-Ultimatum, Mauerbau – es gab ja Gründe. Ich dagegen war ein Kind des Entspannungszeitalters. Dass Deutschland geteilt war, empfand ich als unproblematisch. Nicht unproblematisch fand ich die fehlende Freiheit. Ich verspürte den tiefen Wunsch, dass das Tor zur Freiheit aufbricht und nicht, wie bei den Passierscheinabkommen der 1960er Jahre, bloß für einen kurzen Moment.
Neben dem Begriff der »Wende« haben sich weitere Bezeichnungen, wie Zäsur, Umbruch oder Revolution, friedliche Revolution, etabliert. Welchen Begriff präferieren Sie?
Meine Antwort hat drei Ebenen. Dass sich in der Alltagssprache das Wort »Wende« etabliert hat, hängt mit seiner Nüchternheit zusammen. Sein Alltagstun im Herbst und Winter 1989 mit dem Begriff der Revolution zu verknüpfen, etwa davon zu reden, wie man das Weihnachtsfest während der friedlichen Revolution verbracht habe, schleppt ein Pathos mit, vor dem man zurückscheut.
Auf einer zweiten Ebene, als analytische Kategorie der zeithistorischen Betrachtung, scheint mir der Begriff der »friedlichen Revolution« hingegen ganz angemessen. Revolutionen definieren sich nicht nach ihrem Blutzoll oder der Kühnheit der Entwürfe, sondern nach der Kraft, mit der sie durchgesetzt werden. Eine Revolution zeichnet sich dadurch aus, dass sie Zustände schafft, deren Voraussetzungen sie nicht garantieren kann. Eine siegreiche Revolution schafft neues Recht, eine scheiternde Revolution zieht die Anklage wegen Hochverrats nach sich. Das unterscheidet revolutionäres Geschehen von evolutionärem. Revolutionen stellen Zäsuren dar, welche die Gültigkeit der bisherigen Ordnung der Dinge aufheben. Sie setzen neue normative Maßstäbe des Handelns und Denkens, die sich aus den alten Verhältnissen nicht ergeben konnten. Das führt auch in der Geschichtswissenschaft zu Konsequenzen, die nicht im Handlungshorizont des Einzelnen liegen. Wer bspw. als westlicher Historiker vor 1989 zur DDR publizierte, kam nicht umhin, seiner fachlicher Analyse die deutsche Teilung zugrunde zu legen; und die Zäsur von 1989 entwertete die Ergebnisse der DDR-Forschung schlagartig und ohne Rücksicht auf ihr gedankliches Niveau.
Die dritte Ebene ist die metahistorische, und auf ihr geht es um die Orientierungsrahmen, die unser Reden bestimmen. Warum war die Unterscheidung zwischen Wende und Revolution über Jahrzehnte von tragender Bedeutung? Dass der abschwächende, unpathetische Begriff »Wende« als von Egon Krenz geprägt gilt, hat zu einer anhaltenden Auseinandersetzung um seine Legitimität geführt. Nun geht allerdings, was weniger bekannt ist, auch der Begriff »friedliche Revolution« maßgeblich auf Egon Krenz zurück, der ihn schon einen Monat nach dem Sturz Honeckers am 17. November 1989 auf einer Pressekonferenz gebrauchte: »Wir arbeiten für eine friedliche Revolution!« Ist es die Aufgabe des Historikers, sich für oder gegen eine öffentliche Auf- und Abwertung dieser beiden Zuschreibungsbegriffe einzusetzen? Ich meine: nein. Wir greifen sonst in semantische Kämpfe auf geschichtspolitischer Ebene ein, zu denen wir als Historiker einen metareflexiven Abstand wahren sollten. Fachlich weiterführend ist vielmehr die Frage, warum welcher Begriff gesellschaftliche Anerkennung findet – und wieder verliert. Termini wie »Wende« und »Revolution« sind Trophäen im geschichtspolitischen Kampf um Deutungshoheit; sie sagen darüber hinaus aber auch etwas über die unterschiedlichen Erzählmuster aus, mit denen erst die Zeitgenossen und dann die Nachlebenden die DDR zu erfassen und in ihr Weltbild zu integrieren suchen. Die Adelung des Regimekollaps vom Herbst 1989 als Revolution akzentuiert den aufopferungsvollen Kampf der Regimegegner und den hart errungenen, aber endgültigen Sieg der Freiheit. Und das Wort »Wende« verweist stärker auf die unerwarteten Umstände, unter denen sich der Untergang der SED-Herrschaft so überraschend und fernab jeder historischen Gesetzlichkeit als ein Geschehen vollzog, dessen Resultat eigentlich von keinem der beteiligten Milieus und Gruppen angestrebt wurde, weder von den SED-Reformern noch von der Ausreisebewegung und auch nur sehr eingeschränkt von der Mehrzahl der oppositionellen Gruppen.
Überwiegt Ihrer Ansicht nach das Neuartige und Überraschende, das in Begriffen wie Zäsur, Revolution, Wende zum Ausdruck kommt – oder doch die Kontinuität und das Langfristige, die über die Jahreszahl 1989 hinausgehen?
Das Verhältnis von Zäsur und Kontinuität ist davon abhängig, was betrachtet wird. In politischer Hinsicht haben wir es 1989 zunächst mit einer tiefen Zäsur zu tun. Sie hat eine Diktatur hinweggeschwemmt, die allerdings in ihrer Spätphase zum Zwecke des Selbsterhaltes ausgerichtet war oder in Teilen der Herrschaftselite auch eigene Reformforderungen entwickelt hatte. Unter ihnen gab es Akteure, die zwar Reformbedarf sahen, aber nur zögerlich Veränderungen zu akzeptieren bereit waren, um die eigene Macht nicht zu gefährden; und es gab jüngere SED-Reformer im Parteiapparat, die insgeheim mit der Perspektive eines Dritten Wegs liebäugelten, was sie mit Teilen der Opposition verband. Aber das Wegschwemmen all dieser teils taktischen, teils utopischen Überlegungen durch eine Volksbewegung, welche die SED-Herrschaft insgesamt untergrub und zur Auflösung brachte, stellte eine radikale politische und bald auch gesellschaftliche Zäsur dar.
Dieser Prozess wiederum ordnet sich, zweitens, allerdings in ein säkulares Verblassen der Farbe Rot als politische Option ein, die das postkapitalistische Projekt insgesamt als glaubhafte Vision einer revolutionären Alternative zur bestehenden Gesellschaftsordnung aus dem politischen Diskurs verabschiedet hat. In der neuen Linken war die Unterscheidung zwischen »progressiv« und »reaktionär« eine Leitkategorie der politischen Verortung; heute ist sie substanzlos geworden – wir haben das Koordinatensystem aus dem Auge verloren, auf dem sich solche Bewegungsbegriffe abbilden lassen. Der Niedergang der postkapitalistischen Idee lässt sich bis zur Spaltung der Arbeiterbewegung im Ersten Weltkrieg zurückverfolgen und setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Ost-West-Antagonismus und der gewaltsamen Erstickung reformsozialistischer Bewegungen 1956 in Ungarn und Polen, 1968 in der Tschechoslowakei fort, um mit dem welthistorischen Umbruch von 1989/91 seinen vorläufigen Abschluss zu erreichen. Heute haben wir zwar unterschiedliche linke Klientelparteien, aber im europäischen Parteiensystem keine politische Gruppierung mehr, welche die revolutionäre Systemüberwindung zu ihrem eschatologischen Ziel erklärt.
Drittens aber ist diese Zäsur von 1989/90 unterfüttert von einem ganz erstaunlichen Maß an Kontinuität, die sich erst zeigt, wenn wir unsere zeithistorische Fokussierung auf den Fluchtpunkt 1989 selbst einer kritischen Befragung unterziehen. Tatsächlich erleben wir gerade eine weitreichende Überholung und Veränderung unserer zeithistorischen Erzählmuster. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte sich noch blockübergreifend die Suche nach Normalität und Normalisierung des Denkens der Zeitgenossen ein. Der Schock des verlorenen und in Barbarei geendeten Weltkrieges und seine Überwindung durch wiedererlangte Normalität galten als das herausragende Motiv der Nachkriegszeit, das Konrad Adenauer wie kein Zweiter verkörperte. Es wurde zwanzig Jahre später abgelöst durch die neue Erzählung von Fortschritt, Moderne und Zukunft, die das sozialdemokratische Jahrzehnt prägte, und es wurde begleitet von der Hoffnung Europa, die supranationale Verschwisterung als Versicherung gegen den unseligen Rückfall in nationalstaatliche Handlungsweisen verstand.
Seit den 1980er Jahren schließlich ist der Holocaust insbesondere in Deutschland, aber auch in Europa und in den USA zur beherrschenden Orientierungsgröße des historischen Bewusstseins und politischen Handelns geworden und hat die Frage in das Zentrum gerückt, wie das hatte geschehen können, das in den Worten Hannah Arendts niemals hätte geschehen dürfen – und was wir tun können, um zu verhindern, dass es sich wiederholt. Auch dieses Erzählmuster hat sich in gewisser Weise abgenutzt. Es hat sich ritualisiert. Die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch hat an aufrüttelnder, aufklärerischer Kraft in unserer Zeit eingebüßt, ohne im Allgemeinen in ihrer inhaltlichen Substanz offen angegriffen zu werden. An Überzeugungskraft eingebüßt hat schließlich auch das Erzählmuster »1989«, also die Vorstellung, dass die Geschichte auf das Datum 1989/90 – bzw., wenn man die Sowjetunion einbezieht, 1989 bis 1991 – und den schließlich errungenen Sieg der Freiheit über die Unfreiheit hinausläuft. Wir lesen »1989« nicht mehr allein als eigentlichen Fluchtpunkt des 20. Jahrhunderts, das nach dem Durchgang durch Diktaturen und Katastrophen an sein glückliches Ende gekommen ist. Wir lesen »1989« heute auch als Beginn neuer Problemlagen, als bloßes Durchgangsstadium, als Zäsur im Kontext von Kontinuitäten.
Hinter all dem zeichnet sich ein neues Erzählmuster ab, das sich seit 2015 und 2016 immer stärker herauskristallisiert und auf die Empfindung einer tiefgreifenden Ungewissheit, den Zweifel an der historischen Lektion, das Bild der fragilen Demokratie abhebt. Wir schauen sehr viel genauer als früher auf die Kontinuitäten, die von der Freude über die überwundene Diktatur lediglich überdeckt wurden. Am Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) bspw. werden autoritäre Einstellungskontinuitäten vom Kaiserreich über Weimar und die NS-Zeit bis in die DDR und die Nachwendezeit untersucht. Der besondere Wahlerfolg der AfD in den fünf »neuen« Bundesländern, die ausgetrockneten Milieus einer engagierten Bürgergesellschaft, der fehlende fundamental-liberale Umbruch, den sich der Westen rückblickend so gerne attestiert: All das spielt für uns heute eine immer weiter gewachsene Rolle im Bemühen, ostdeutsche Besonderheiten und Pfadabhängigkeiten zu erfassen. Insoweit würde ich die hinter der tiefen Zäsur von 1989/90 verborgenen Kontinuitätslinien stark gewichten.
Also wächst auch künftig absehbar nicht zusammen, was nach Willy Brandt schon 1989 zusammengehörte?
Hinter der politischen Zäsur von 1989 verbergen sich sozialgeschichtliche Umbrüche, die Ost- wie Westdeutschland betreffen: die Digitalisierung, die zunehmende Prekarisierung, die Privatisierung von öffentlichen Arbeitgebern wie Post oder Bahn. Auch dort, wo scheinbar Kontinuität herrschte, fanden in längerer Perspektive Umbrüche statt. Hier zeigt sich abermals: Es gibt sowohl Zäsurelemente als auch Kontinuitätsaspekte, die 1989/90 bestimmen. Welche wir stärker gewichten, ist eine Frage der Perspektive.
Zuletzt ist eine Diskussion entbrannt, in welcher Defizite in der Aufklärungsarbeit über die DDR kritisiert werden. Brauchen wir diesbezüglich eine neue Art der Aufklärung?
Die Indizien mehren sich, dass die schockpädagogische Aufklärung über die DDR und die politische Delegitimierung der SED-Herrschaft an ihr Ende gekommen ist und in ritualisierter Routine erstarrt. Das aus ihr gewonnene Bild der DDR hat sich dank beharrlicher und engagierter Aufarbeitung als Erzählung durchgesetzt. Niemand würde mehr bestreiten, dass es sich bei der SED-Herrschaft um eine Diktatur handelte. Aber es ist ein Trugschluss, dass die erzieherische Aufklärung über die vergangene Diktatur unter Verletzung des Beutelsbacher Konsenses die Parteinahme für die Demokratie sichert. Nur dort, wo unterschiedliche Wege der Vergangenheitsverarbeitung und -aneignung miteinander in Austausch treten, kann mit Adorno das Vergangene »im Ernst verarbeitet« und sein Bann durch »helles Bewusstsein« gebrochen werden. Deshalb halte ich etwa die Idee, das Gelände der alten Stasi-Zentrale in der Normannenstraße fortan als »Campus für Demokratie« umzuwidmen, wie sie Roland Jahn verfolgt, für nicht zielführend. Dreißig Jahre nach dem Untergang der kommunistischen Herrschaft in Europa ist es an der Zeit, die historisch-politische Aufarbeitung der DDR in die historisch-kritische Auseinandersetzung mit ihr zu überführen. Aufgabe auch der Gedenkstättenarbeit ist es doch, Anschauung mit Reflexionsfreiheit zu verbinden. Auch der Besuch von Schreckensorten wie der Gedenkstätte Hohenschönhausen sollte erlauben, individuelle Wege der Aneignung zu gehen, und bestenfalls sogar Räume der Metareflexion eröffnen: »Was will ich eigentlich erfahren, wenn ich eine Dunkelzelle oder einen Verhörraum betrete? Mit welchen Gedanken komme ich dorthin? Und wie zwingend sind diese Vorstellungen?«
Ich wäre nicht besorgt darum, dass auf diese Weise die Repression verniedlicht, die Opfer verhöhnt werden, die Diktatur verharmlost würde, wie solche Überlegungen noch vor wenigen Jahren echoartig zurückgewiesen wurden. Im Gegenteil gilt doch, dass die historische Dauerhaftigkeit diktatorisch verwalteter und beherrschter Gesellschaften in ihrer Gefährlichkeit und in ihrer Komplexität überhaupt erst verständlich wird, wenn neben der nackten Überwachung und dem Terror die vielen anderen Bindungskräfte undemokratischer Herrschaft ebenso sichtbar werden wie die vielen Formen ihres Erleidens zwischen gebrochenem Widerstand, eigensinniger Unterlaufung und innerer Selbstaufgabe. Ulrike Poppe, einst Untersuchungshäftling in Hohenschönhausen, erzählte mir einmal von zwei Wärtertypen, die sie dort angetroffen habe: Der eine, jüngere, gab sich kalt, glatt und gleichgültig, aber nicht gewalttätig. Der andere, ältere, trat ihr aufbrausend gegenüber, lief gefährlich rot im Gesicht an. Aber vor ihm, dem brutalen Gesinnungsvertreter, hatte Ulrike Poppe weniger Angst; er verkörperte für sie jenen Rest an Menschlichkeit, der noch überzeugen und auf den rechten Weg zurückführen wollte, von dem der bloße Karrierist nichts mehr wusste. Für solche Ambiguitäten müssen Gedenkstätten offen sein. Sonst sind sie keine Orte des lernenden Fragens, sondern nur noch Orte des rituellen Vergewisserns.
Bertolt Brechts »Die Maßnahme« buchstabiert die furchtbare Anziehungskraft der chiliastischen Befreiungsidee bis in das äußerste Extrem der entschlossenen Selbstauslöschung aus: Der an seiner gestellten Aufgabe scheiternde Kommunist bittet seine Genossen, ihn zu erschießen. Und sie tun es. Sie tun es nicht gern, aber sie tun es um der Sache willen. Diese Kraft einer Überzeugung, die so sehr gegen die eigene Menschlichkeit gerichtet sein kann, finde ich in unserem Verständnis kommunistischer Herrschaft sträflich unterschätzt. Um sie in ihrer unheilvollen Kraft zu begreifen, hilft der Blick auf die groben Instrumente – Gefängniszellen, Folter, Einschüchterung – alleine nicht weiter. Aus meiner Sicht sind die einschüchternden Gefängnismauern in Hohenschönhausen zu historischen Erkenntnisgrenzen geworden. Wir müssen andere Möglichkeiten nutzen, um die Geschichte des vergangenen Katastrophenjahrhunderts angemessen zu erfassen. Aufklärung über die DDR wünsche ich mir pluraler, offener, stärker auf Historisierung bedacht, auch internationaler argumentierend. Auch sähe ich als Historiker den historischen Wandel gerne stärker sichtbar gemacht. Warum hat die Kultur der Repression eigentlich 1989 nicht gewirkt, warum sind die markigen Worte der Machtsicherung mit der Waffe in der Hand in dem Moment verstummt, als es darauf ankam; warum fiel der Machtapparat des MfS nach Mielkes stammelnder Rede in der Volkskammer (»Ich liebe Euch doch alle«) so sang- und klanglos auseinander?
Kommen wir noch einmal zum Wendejahr zurück: Wenn Geschichte immer auch vom Blickwinkel abhängt, kann es dann überhaupt eine gesamtdeutsche Aneignung von 1989 geben?
Die öffentliche Diktaturerinnerung hat gesamtdeutsche Reichweite. Sie wird auch im »alten Westen« nicht nur geteilt, sondern sogar befördert. Geschichtsdidaktiker haben immer wieder darauf insistiert, dass die Auseinandersetzung mit der DDR angemessen in den Lehrplänen verankert sein müsse – und das ist sie auch, wiewohl die knappe Zahl der Unterrichtsstunden immer wieder zu curricularen Verteilungskämpfen führt, in denen der Geschichtsunterricht das Nachsehen hat. Im Schulbuch dominiert die Diktaturerinnerung. Kontrastierende Erzählmuster etwa, die das Ende des sozialistischen Experiments als feindliche Übernahme des Ostens durch den Westen begreifen und mit dem Begriff des »Anschlusses« – also nach österreichischem Beispiel als Kolonialisierung mit partieller Zustimmung der Kolonialisierten – belegen, spielt nur noch im Osten eine erkennbare und auch dort abnehmende Rolle. Als Denkmuster ist es fast nur innerhalb derjenigen Alterskohorten verbreitet, die den zweiten deutschen Staat nach 1945 und bis 1989 als antifaschistisches und sozialistisches Gegenmodell zur Bonner Republik gestützt hatten.
Die Alltagssprache in Ost und West nutzt grenzüberschreitend bevorzugt nicht den Revolutions-, sondern den Wendebegriff. Dennoch ist die Erfahrung einer fundamentalen Wende eine zutiefst ostdeutsche Angelegenheit, die in der alten Bundesrepublik keine Entsprechung hat: Die »Wende« bedeutete in der ostdeutschen Lebenswelt Befreiung und Verstörung zugleich. In sie geht die Erfahrung des aufrechten Gangs ebenso ein wie der Zerfall der gewohnten Ordnung und die als narzisstische Kränkung erlebte Erfahrung der älteren Generation, die Familie nicht mehr zusammenzuhalten und nicht mehr in die neue Zeit zu passen, mit der Arbeit auch die Autorität in der Familie zu verlieren. Mit dem Begriff »Wende« verbindet sich die Erinnerung an einen Umbruch, der praktisch über Nacht nahezu alle bisherigen Lebenserfahrungen und Gewissheiten auf den Kopf stellte – und er verlangte den Deutschen im Osten eine Leistung ab, die von den Deutschen im Westen bis heute unterschätzt, ja vielfach in ihrer Tragweite kaum wahrgenommen worden ist. Neben dem Mix von Gewinn und Verlust – wie wenige Berufsgruppen konnten ihre Arbeitsplätze in der Zeit nach der deutschen Vereinigung retten! – enthält der Terminus »Wende« nicht zuletzt auch die Erfahrung des kühlen Abbruchs von begeistertem Aufbruch. Die vielen kleinen Start-up-Unternehmen, die sich in den Nischen der abgewickelten Kombinate mit großer Hoffnung und kleinem Startkapital einnisteten, waren infolge der wegbrechenden Märkte im Zuge der Währungsumstellung meistens schnell am Ende. Dieser erstickte und enttäuschte Aufbruch, der Absturz der historischen Macher, welche die Bewegungsgesetze der Geschichte kannten, zu den aus- und abgeschiedenen Opfern einer historischen Entwicklung – das ist eine Wendeerfahrung, die man nicht als gemeinsame Ost-West-Erfahrung bezeichnen kann. Jenseits des gesamtdeutschen Zäsurbewusstseins ist also auf alltagsgeschichtlicher Ebene die Differenzerfahrung zwischen Ost und West sehr viel stärker zu gewichten, als dies in der öffentlichen Erinnerung an den Aufbruch in die Freiheit sichtbar wird.
Die enttäuschte Aufbruchshoffnung wird vielfach auch zur Erklärung der besonderen Stärke rechter Gruppierungen und Einstellungen in den neuen Bundesländern herangezogen. Teilen Sie diese Sichtweise – oder dominieren aus Ihrer Sicht Kulturaspekte, die ihren Ursprung vor 1989 haben?
Nach den vorliegenden soziologischen Befunden kann wohl davon ausgegangen werden, dass es in Deutschland einen Bodensatz von latentem Rechtsextremismus in Ost wie West gibt, der über die Jahrzehnte einigermaßen stabil geblieben ist, ohne immer in gleicher Stärke in Erscheinung zu treten; und nach der Zeitenwende von 1989/90 in Hoyerswerda, aber auch in Mölln und Solingen offenbarte. Rechtsextremismus gewann und gewinnt in Umbruchs- und Krisenzeiten in beiden Teilen Deutschlands Raum und schreibt sich damit in eine unheilvolle europäische Tradition ein – es handelt sich ja nicht um ein ausschließlich deutsches Phänomen. In Deutschland aber hat sich aufgrund der verhängnisvollen Entwicklung der Zwischenkriegszeit eine besondere Sensibilität herausgebildet, die uns die machtvolle Rückkehr des Rechtspopulismus auf die politische Bühne besorgter und erschrockener registrieren lässt als in anderen europäischen Ländern.
Vor diesem Hintergrund lassen sich gleichwohl überzeugende Erklärungen identifizieren, warum die extreme Rechte heute in Ostdeutschland einen vergleichsweise besseren Nährboden gefunden hat. Sie beziehen sich zum Beispiel auf das größere Maß an Entwurzelung, das sich, gerade auf dem flachen Land, im Gefühl des Abgehängtseins ausdrückt. Es gibt »PEGIDA«-Demonstranten, die nach Dresden fahren, weil es ein Happening ist und weil sie im Wutbürgertum eine Vergemeinschaftung finden, die sie in ihren Wohnorten vermissen. Die Vereinzelung, in die man aus einem sehr kollektivistisch organisierten Gemeinwesen gefallen ist, befördert in Verbindung mit der Etablierung der unbeschränkt zugänglichen sozialen Medien einen um Aufmerksamkeit buhlenden Verbalradikalismus, der sich u.a. in wüsten Beschimpfungen und medialen Attacken auf Politiker und überhaupt auf jedes Engagement für ein liberales und tolerantes Miteinander äußert, die Bestandteil der politischen Kultur bzw. Unkultur in unserer Zeit geworden sind.
Ein anderer Erklärungsansatz operiert mit der aus der DDR in die erweiterte Bundesrepublik getragenen Distanz zum Staat und den von ihm verordneten Werten. Eine, fallweise zwei Generationen lang war der Staat für Bürger, die in der Zwischenkriegszeit und besonders in der DDR sozialisiert worden waren, nicht tua res, nicht die eigene Sache, sondern eine Instanz der Zumutungen. Sich ihr gefahrlos entgegenstellen konnte man sich erst seit November 1989 und übt es seither mit grimmiger Befriedigung ein. Zu den ostdeutschen Wahlerfolgen der AfD trägt der tradierte Habitus nicht wenig bei, es »denen da oben« ordentlich zu zeigen und den neuerdings propagierten Werten heute nicht weniger aufsässig zu misstrauen als früher. Dies gilt namentlich für die Xenophobie. Sich ausländerfeindlich zu verhalten, konnte in der DDR eine Form von Herrschaftskritik bedeuten. Die Vertragsarbeiter aus Mosambik, Angola, Vietnam und anderen Ländern waren im staatlichen bzw. im Parteiauftrag gekommen und wurden von der Partei entsprechend behütet. Sie zu verachten und herabzuwürdigen, war eine gefahrlose Möglichkeit, zugleich auch der Macht die Ablehnung zu zeigen. Diese Form von Herrschaftskritik und Menschenverachtung ist eine absurde Verbindung; aber sie kann helfen, die Übernahme »Wir sind das Volk« durch den Rechtsextremismus zu erklären. Vielleicht laufen gar nicht so wenige von denen, die sich 1989 mutig gegen die staatliche Macht und ihre Durchsage »Hier spricht die Volkspolizei« stellten, heute bei »PEGIDA« mit, weil sie immer noch dieselbe Anti-Herrschafts-Haltung leitet.
Mit Blick auf 1989 und die Erfahrung von Bindungsverlusten, bezüglich des Wegbrechens von schützenden Strukturen, von Diskontinuitäten und lebensweltlichen Umwälzungen hat Wolfgang Engler die Ostdeutschen als »Avantgarde« beschrieben. Halten Sie diese Charakterisierung für plausibel?
Zutreffend ist aus meiner Sicht, dass Ostdeutsche der mittleren Generation mehr Erfahrungen mit Umbrüchen und Umbruchschancen gemacht haben als Westdeutsche. Und ich würde nicht bestreiten, dass diese Fähigkeit, alte Gewissheiten infrage zu stellen, sowie die Bereitschaft, sich umzustellen – durch Wohnort- oder Perspektivwechsel über die eigenen Lebensziele –, auch ein enormes lebensgeschichtliches Kapital sein kann.
Auf einer praktischen Ebene halte ich das Avantgarde-Argument allerdings für verfehlt. Wir haben im Bereich des Wissenschaftssystems viel mit prekären Beschäftigungsverhältnissen zu tun. Kaum jemandem fällt das Leben in unsicherer Arbeitsperspektive leicht, und die fortbestehenden Unterschiede zwischen ost- und westdeutsch Sozialisierten treten in Anbetracht der von Diskontinuität und Unsicherheit geprägten Beschäftigungsverhältnisse im digitalen Zeitalter vor den gemeinsamen Herausforderungen zurück, gegen welche die eine Herkunft nicht besser wappnet als die andere.
Überhaupt sehe ich beim Avantgarde-Begriff eine starke Assoziation mit dem Selbstverständnis kommunistischer Herrschaft: das Handeln im Auftrag einer Gesellschaft, einer Masse, einer Klasse, die ihrer selbst noch nicht bewusst ist. Dieses Mandat ist selbst erteilt; es verbindet sich in der siebzigjährigen Geschichte des Kommunismus an der Macht mit einem politischen Erziehungsauftrag und legitimiert sich durch das behauptete Wissen um die Wahrheit und um die historische Gesetzlichkeit. Das sind die üblichen Kriterien der Avantgarde-Herrschaft; diesen Begriff würde ich nicht verwenden, um das individuelle Vermögen der Anpassung an eine unsichere Zukunft zu charakterisieren.
Wie viele andere Historiker haben auch Sie in Bezug auf den friedlichen Verlauf der Wende von einem »Wunder« gesprochen. Warum hat der hochgerüstete SED-Staat im Herbst 1989 darauf verzichtet, zur Gewalt zu greifen, wie es noch einige Monate zuvor die Chinesen getan hatten? Konnte die SED-Führung nicht anders, weil sie nicht mehr auf den Beistand der Sowjetunion zählen konnte, oder war es lediglich eine Reihe von Zufällen, die dazu führten, dass am Ende kein einziger Schuss fiel?
Ein Grund ist sicher der Schutzschirm der evangelischen Kirche in der DDR. In Ost- wie Westdeutschland hat die Kirche sich nach 1945 dazu entschlossen, pazifistische Positionen als gottesnäher auszugeben. Die Verwandlung von Schwertern zu Pflugscharen konnte unter kirchlichem Dach besser gedeihen und hatte dort auch ein gewisses Artikulationsprivileg. Ein zweiter Grund ist, dass in der SED-Spitze Fraktionskämpfe tobten zwischen denen, die sich schlicht an der Macht halten wollten, und den jüngeren SED-Reformern um Egon Krenz, welche die alte Führung ablösen wollten. Hätten sie sich die Hände so blutig gemacht wie die chinesische Führung, dann wäre diese Idee vom Tisch gewesen. Ein dritter Grund liegt in der drückenden Aussichtslosigkeit der eigenen Herrschaft: Man ruft nicht nach Maschinengewehren, wenn man keinen Plan für die Zukunft hat, an den man selbst glaubt – und an den die glauben, die man zu den Waffen ruft. Das unterscheidet den 17. Oktober 1989 vom 17. Juni 1953. Honecker sprach am 9. und auch am 16. Oktober durchaus davon, zur Einschüchterung der aufbegehrenden Massen Panzer durch Leipzig rollen zu lassen – nicht um sie einzusetzen, aber um sie vorzuzeigen. Am 17. Oktober, also in der Dienstagssitzung des Politbüro, auf der Willi Stoph Honeckers Absetzung auf die Tagesordnung brachte, war es Mielke, der die innere Entkräftung der Macht auf den Punkt brachte: »Wir können doch nicht anfangen, mit Panzern zu schießen. Erich, Schluss: Ich akzeptiere das.« Das sagte derselbe Mielke, der 1931 auf dem Berliner Bülowplatz einen Polizistenmord beging und 1953 nichts dabei fand, im Windschatten der sowjetischen Panzer auf die eigene Bevölkerung schießen zu lassen. Doch im Oktober 1989 fehlte selbst ihm die Perspektive; und ohne Glauben an den Zweck der bewaffneten Machtsicherung ist der Erste, der die Waffe niederlegt, am besten dran, wie in der alten Garde auch jemand wie Innenminister Friedrich Dickel lernen musste, der vier Wochen zuvor noch »am liebsten hingehen und dieses Halunken zusammenschlagen« wollte, »dass ihnen keine Jacke mehr passt«. Dass den altersschwachen Machthabern am Ende das Zepter der Macht aus der Hand mehr fiel als gerissen wurde, erklärt sich weniger aus der Stärke ihrer politischen Gegner als aus dem Zukunftsverlust eines sozialistischen Gesellschaftsversuchs, der auf die Frage der Globalisierung und den von Polen, Ungarn und der Sowjetunion ausgehenden Umbruch nur mehr mit Einschüchterung und Selbstisolierung zu antworten wusste. Darüber hinaus gibt es noch einen allerdings kontrovers diskutierten vierten Grund: Wir leben in einem Zeitalter, das der Gewalt wenig diskursive Macht zubilligt. Der Aufstieg der Menschenrechte, die politische Beteuerung, dass zehnmal zu verhandeln besser sei, als einmal zu schießen, wird gern mit dem Begriff der Entgewaltung beschrieben. In der realen Gewalthaftigkeit des gesellschaftlichen Zusammenlebens bildet sich dieser Trend kaum ab; aber als Lösungsansatz im politischen Kampf hat die Gewalt an Legitimation und Resonanz verloren. Auch das verstärkte im Herbst die Zögerlichkeit, den Gewalthebel zu betätigen, und führte dazu, dass in der entscheidenden Stunde auch die uneinsichtigsten Repräsentanten des SED-Regimes zu »Helden der Entmachtung« wurden, um eine zeitgenössische Formulierung von Hans Magnus Enzensberger aufzunehmen, die freilich mehr auf Jaruzelski und Gorbatschow zielte als auf die »Epigonen des Rückzugs« in der DDR. Doch auch deren Handeln folgte dem Trend zur Entgewaltung, wenn unmittelbar vor dem entscheidenden Kräftemessen auf der Leipziger Montagsdemonstration vom 9. November Befehl erging, die zur Niederschlagung innerer Unruhen gebildeten Einsatzkräfte der NVA nur noch ohne Bewaffnung einzusetzen, damit es in der aufgeheizten Situation nicht unbeabsichtigt zu Schusswechseln mit unabsehbaren Folgen kommen könnte. All das zusammen erklärt für mich die ganz unerwartbare Gewaltlosigkeit des Umbruchs von 1989. Zugleich aber bleibt auch im analytischen Rückblick ein nicht zu unterschätzendes Moment an Kontingenz. Wäre die Konfrontation in Plauen, Dresden, Leipzig oder anderswo stärker aus dem Ruder gelaufen, wäre irgendwo das friedliche Wendebegehren in revolutionäre Gewalt umgeschlagen, hätte sich daraus eine repressive Handlungslogik der gewaltsamen Protesterstickung, der massenhaften Internierung und der sowjetischen Machtdemonstration – etwa mit einer Militärübung an der deutsch-deutschen Grenze – entwickeln können, die wie 1953 auch die reformorientierten Kräfte im Politbüro nicht aufgehalten hätten. Das Illusionäre einer Opposition, welche die DDR nicht abschaffen, sondern verbessern wollte, war zugleich die entscheidende Voraussetzung für die Friedlichkeit des Umbruchs.
Die ursprüngliche Perspektive der Opposition auf eine verbesserte DDR, auf einen Dritten Weg zwischen dem bis dahin real existierenden Sozialismus und dem Kapitalismus hat sich relativ schnell erübrigt. Steht insofern 1989 nicht nur für demokratischen Aufbruch, sondern auch für das endgültige Ende der Hoffnungen auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz?
Das Jahr 1989 ist eine Stufe auf der Abschiedstreppe der sozialistischen Erlösungsutopie. Das 20. Jahrhundert stellt sich im Rückblick als Konkurrenz dreier Ordnungsentwürfe dar: des liberalen marktwirtschaftlichen Rechtsstaats, des Faschismus mit seiner nationalsozialistischen Steigerungsform und des Kommunismus in seinen verschiedenen Spielarten. Das faschistische Gesellschaftsmodell ist 1945 in einer Menschheitskatastrophe untergegangen, wiewohl es im europäischen Raum mit Franco in Spanien, mit Salazar und Caetano in Portugal und mit Papadopoulos in Griechenland noch nachwirkte. Der kommunistische Gegenentwurf hat die weltgeschichtliche Bühne erst nach sehr viel längerer Verweildauer und unter ganz anderen Umständen, aber vielleicht nicht weniger endgültig verlassen. Es scheint, als sei das im 19. Jahrhundert aufgekommene Denken in Systemalternativen im 21. Jahrhundert an sein Ende gekommen. Die Marx’sche Theorie, der Glaube, dass die bürgerliche Gesellschaft ein Durchgangsstadium sei, halte ich für eine historisch erledigte Sichtweise. Die bleibende und überzeitliche Vision eines besseren Lebens hat sich in unserer Zeit, wenngleich keineswegs einheitlich, von den Vergemeinschaftungen der Klasse, der Rasse und des Volks mehr hin zum Einzelnen und seinem Schutz verlagert. Mit dem Verblassen der einstigen Systemalternativen hat auch die tradierte Links-rechts-Unterscheidung an Kraft verloren – erhalten bleibt sie in der Gegenwart mehr als Haltung denn als Handlung, und die Protestbewegungen unserer Jahrzehnte lassen sich immer unbefriedigender in ein klassisches Links-rechts-Muster einfügen, wie sich am Beispiel der gilets jaunes in Frankreich ebenso zeigen lässt wie an der »Brexit«-Bewegung in Großbritannien – beide sind nach links wie rechts anschlussfähig, und die gegenwärtige italienische Regierung hat die Aufhebung des Gegensatzes von Links- und Rechtspopulismus sogar institutionalisiert.
Immer wieder flammte auch die Idee eines Dritten Weges zum Sozialismus auf; aber immer wieder zerstob diese Hoffnung so rasch wieder, wie sie aufkam – nach dem Ersten Weltkrieg mit der USPD, 1956 und 1968 unter der Macht des sowjetischen Realsozialismus und nach 1989 selbst in der Erinnerung ihrer Protagonisten, die sich heute kaum noch entsinnen können, dass sie im revolutionären Herbst 1989 nicht den Weg nach Bonn suchten, sondern für einen »verbesserlichen Sozialismus« eintraten. Dabei war auch diese Hoffnung 1989 im Grunde nur noch ein nachholendes Aufflackern, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Die Opposition hielt mehrheitlich noch für einige Wochen und Monate an einer Idee fest, die nur in der Abgeschlossenheit der sozialistischen Ostblock-Hemisphäre hatte überleben können, während der Niedergang der westeuropäischen Linken schon in den 1970er Jahren begonnen hatte und in den 1980er Jahren zu einem zumindest vorläufigen Abschluss kam. Ungeachtet der fortbestehenden Frage, ob der demokratische Kapitalismus mit seiner inhärenten Steigerungsstruktur das historisch letzte Wort auf die fortbestehenden Probleme des gesellschaftlichen Zusammenlebens gewesen sein kann – wer spricht heute noch vom systemüberwindenden Marsch durch die Institutionen oder der politischen Alternative? Eine grundsätzlich neue Ordnung der Gesellschaft zu schaffen, ist heute kein ernsthafter politischer Anspruch mehr.
Wenn zwei der drei konkurrierenden Systementwürfe, nämlich der Faschismus und der Kommunismus, praktisch untergegangen sind, gibt es dann heute nur noch die Alternative zwischen liberaler und illiberaler Demokratie? Ist die Abwehr antidemokratischer Kräfte, der sich etwa die Staatsschutzorgane verschrieben haben, damit ein Unterfangen, das sich eigentlich längst überlebt hat?
Tatsächlich rüttelt an der Demokratie als alternativloser Staatsform keine politische Kraft, und selbst der Rechtspopulismus fordert die bestehenden Verhältnisse nicht wie in der Zwischenkriegszeit durch einen autoritären Messiasglauben heraus, sondern durch seinen ultrapartizipativen Gestus. Die Trennlinie der politischen Gegenwartskulturen verläuft zwischen liberaler und illiberaler Demokratie; auch Staaten wie Ungarn, Polen, Russland oder die Türkei, deren autoritäre Herrschaft diktatorische Züge trägt, überschreiten bislang jedenfalls nicht den Rubikon, die demokratischen Institutionen grundsätzlich abzuschaffen. Auch im europäischen Parlament formieren sich nicht etwa diktatorische gegen demokratische Parteien zu politischen Lagern – vielmehr halten sie sich allesamt für Demokraten.
Die Gefährdung der Demokratie und des Gemeinwesens besteht nicht mehr in der systemischen Ablehnung, sondern in der punktuellen Untergrabung. Sie besteht im islamischen Terror gegen Frauen, die kein Kopftuch tragen; sie besteht in rechten Kameradschaften, die alltäglich Rechtsstaatlichkeit und Werteordnung herausfordern; sie besteht in der gezielten und dann als Missverständnis wieder relativierten Verletzung der geltenden Regeln politischer und historischer Verständigung.
Wenn die Diagnose gilt, dass der Rechtsradikalismus heute nichts anderes könne, als Nadelstiche zu setzen, weil er über gar kein eigenes Nähgarn verfüge, dann suchen wir zu Unrecht immer wieder nach den heimlichen und unheimlichen Parallelen zur antidemokratischen Herausforderung in den Weimarer Jahren und dann besteht der beste Weg des Umgangs mit dem Rechtspopulismus in der Wahrung überlegener Gelassenheit.
Der Fall der Berliner Mauer jährt sich dieses Jahr zum dreißigsten Mal. Erwarten Sie durch weitere Aktenzugänge noch Erkenntnisse, die eine Neubewertung von 1989 mit sich bringen?
Die DDR-Hinterlassenschaften sind nach dem Untergang des SED-Regimes überwiegend unmittelbar zugänglich gemacht worden. Der ostdeutsche Staat ging im hellen Abendlicht unter; nur zwei Monate später hatten die Historiker das Wort. Doch es gibt Ausnahmen: Für die Akten des Außenministeriums, die dem politischen Archiv des Auswärtigen Amtes zugeschlagen wurden, gilt die Dreißig-Jahre-Frist. Auch hier ist jedoch kein grundstürzend neuer Erkenntnisgewinn mehr zu erwarten. Denn auch das Außenministerium der DDR operierte ja nicht autonom. Alle grundsätzlichen Handlungsstränge liefen im Hirn der Partei zusammen und sind im Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO) archiviert – und das ist öffentlich zugänglich. Deren zukünftige Zusammenführung mit den Akten, die sich in der Obhut der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) befinden, wird auch die langjährigen Zugangsunterschiede beseitigen, die sich bislang aus den Unterschieden des Stasi-Unterlagen- und des Bundesarchivgesetzes ergeben haben, und mit der Freigabe der bisher für externe Forscher unzugänglichen Findhilfsmittel der BStU sicherlich noch manchen interessanten Fund zutage fördern. Insgesamt aber gilt: Mit den Sensations- und Sonderfunden ist es meiner Einschätzung nach vorbei. Es sind die klugen Fragestellungen, auf die es in der Zeitgeschichtsschreibung auch für die DDR in Zukunft ankommt, und nicht so sehr die erfolgreiche Suche nach sensationellen Dokumenten.
Was ist in Ihren Augen in den nächsten Jahren mit Blick auf die DDR-Forschung gefordert? Wo sehen Sie noch Desiderate oder Lücken, die durch neue Fragestellungen stärker ins Blickfeld geraten müssten?
Die wichtigste Forderung sehe ich nach wie vor im Bemühen, gegen jede Verinselung der DDR-Forschung vorzugehen. Die DDR ist in erster Linie Teil eines Weltentwurfs, der in seinen deutsch-deutschen wie auch internationalen Bezügen gesehen werden muss und bei dem der Anschluss an die internationale Kommunismusforschung gewahrt werden muss.
Zweitens scheint es mir zunehmend wichtig, die Erzählmuster, die Narrative, die Blickwinkel auf die DDR selbst stärker in den Blick zu nehmen und in ihrer zeitgeschichtlichen Bedingtheit zu analysieren. Wir brauchen eine energische Historisierung der Aufarbeitung. Unter welchen sinnweltlichen Bedingungen entwickelte sich der politische und historische Umgang mit der untergegangenen DDR? Stand er überstark unter dem Eindruck einer seinerzeit verfehlten NS-Bewältigung? Wie hat sich der Blickwechsel vollzogen, der »1989« nicht mehr als weltgeschichtliche Epochenzäsur und freiheitlichen Ausgang aus der Konfliktgeschichte des 20. Jahrhunderts begreift, sondern als Durchgangsstation oder sogar Gründungsdatum einer neuen Problemgeschichte der Gegenwart?
Und zuletzt scheinen mir über den Bewusstseinshorizont der zeitgenössischen Akteure und Beobachter hinaus die Orientierungskategorien und -muster aufschlussreich, die ihr Handeln unwissentlich und unwillentlich bestimmten. In welchen zeitlichen Koordinatensystemen war man eigentlich im kurzen 20. Jahrhundert zwischen 1914 und 1989 unterwegs, und wie verschoben sich diese Koordinaten? Mit seinen Überlegungen zu den régimes d’historicité, also den Zeitverhältnissen, den temporalities, hat François Hartog eine Anregung gegeben, deren Weiterverfolgung lohnt. Welche vergangenen Zukünfte birgt die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts und welchen Wandel im Umgang mit der Vergangenheit? Wie sehr und wie lange bestimmte die Vision einer besseren Zukunft das politische Handeln der Zeitgenossen, und wie gingen sie mit dem Verlust von Zukunft etwa nach den verlorenen Kriegen oder durch die Vertreibung aus der Heimat um? Nach dem Ende der Systemkonkurrenz, die – wie der Nationalsozialismus – die bruchlose Versöhnung von Vergangenheit und Zukunft propagierte oder – wie der Sozialismus – die Hoffnung auf ein besseres Morgen zum Legitimationsfundament machte, konzipieren wir heute Zukunft vor allem als erfolgreich fortgeschriebene Gegenwart. Wir ziehen gegenwärtige Linien weiter und hoffen, dass in 15 Jahren der Krebs besiegt, der Klimawandel gestoppt ist und der Individualverkehr aus erneuerbarer Energie gespeist wird. Aber wir würden Zukunft nicht mehr als Entschädigung für das Elend der Gegenwart begreifen und unseren Kindern und Enkeln nicht die Hoffnung mitgeben, besser auszufechten, woran wir gescheitert sind. Mit der Verkümmerung des Zukunftshorizonts, die einen nicht unbeträchtlichen Teil zur Delegitimierung des SED-Regimes beigetragen hat, korreliert eine eindrucksvolle und noch immer anhaltende Erweiterung des Vergangenheitshorizonts. Sie hat auch die Orientierungsleistung der Geschichte für die Gegenwart so weit verstärkt, dass heute die absurde Annahme verbreitet ist, dass Gesellschaften, die aus der Vergangenheit nicht lernen wollten, zu deren Wiederholung verdammt sind. Aufgabe der Zeitgeschichte ist nicht, diesem Trend einfach zu folgen, sondern ihn gleichzeitig auch kritischer Betrachtung zu unterwerfen und mit den bescheidenen Mitteln der Wissenschaft zur eigenen Zeit in metareflexive Distanz zu treten.
Das Gespräch führten Matthias Micus und Marika Przybilla-Voß.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019