Die Zeitgeschichtsforschung und die Zäsur 1989 Chancen und Verantwortung einer (fast) abgehängten Disziplin

Von Angela Siebold

2019 jähren sich demokratischer Protest, Grenzöffnungen und erste Demokratisierungen in Ostmitteleuropa zum dreißigsten Mal. Dabei ist das Jahr kein gewöhnliches Jubiläumsjahr der Zeitgeschichte: Dreißig Jahre, das ist schon eine Wegmarke, die größere Aufmerksamkeit verdient. Dreißig Jahre: Das ist der Zeitraum, mit dem weitläufig ein Generationswechsel definiert wird. Wer nun noch glaubt, der Mauerfall habe doch eben erst stattgefunden und alle in Deutschland hätten dieses Ereignis – die Fernsehbilder, die Euphorie und das Staunen – noch vor Augen, der irrt: Wer heute das Gymnasium abschließt, der ist vielleicht gerade noch im alten Jahrtausend geboren. Kalter Krieg, Planwirtschaft und Perestroika sind für viele der jungen Generation böhmische Dörfer. Und sie sind gefühlt so weit weg, wie Geschichte es eben sein kann – von der eigenen Lebenswirklichkeit und von den Erwartungen an die individuelle und die gesellschaftliche Zukunftsgestaltung.

Vor diesem Hintergrund verwundert nicht, dass die unmittelbare Faszination der Geschehnisse im Herbst 1989 zunehmend verblasst, ja dass sogar kritische Stimmen zur »Wende« lauter werden als noch vor fünf oder zehn Jahren. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich eine Generation von dreißig Jahre zurückliegenden Ereignissen distanziert – sei es durch offenen Protest oder durch innere Abkehr und Unverständnis. Dreißig Jahre lagen zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem deutschen Angriff auf Polen unter nationalsozialistischer Herrschaft, zwischen der deutschen Niederlage in Versailles und dem erneuten militärischen Ausbruch aggressiven Großmachtstrebens in Deutschland. Dreißig Jahre wiederum vergingen zwischen dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und dem öffentlichen, wütenden Aufbegehren der sogenannten 68er-Generation gegen ihre Eltern, gegen die Alten, gegen das Vergessen. Und dreißig Jahre sind nun eben vergangen, seit die Umwälzungen in Ostmitteleuropa zu dem geführt haben, was heute weithin als »Friedliche Revolution« bezeichnet wird. Umso wichtiger, darüber zu sprechen. […]

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019