Eine historische Zäsur Die Aktualisierung der Nation durch 1989
200 Jahre nach der Französischen Revolution, in welcher der dritte Stand die Nation allein zu repräsentieren beanspruchte, hat mit der Friedlichen Revolution in Deutschland ebenfalls eine Bewegung von unten die Herrschaftsverhältnisse umgestürzt. Die im Herbst 1989 auf Demonstrationen in der DDR ausgerufenen Protestparolen »Wir sind das Volk« und »Wir sind ein Volk« sind Formeln revolutionärer Art und haben die demokratische und nationale Frage auf die Tagesordnung in Deutschland gesetzt. Die nationale Frage war Jahrzehnte ungelöst; sie war entstanden als Ergebnis der Auseinanderentwicklung der Sieger des Zweiten Weltkriegs, die Deutschland besetzt und in der Konsequenz geteilt hatten. Die Einheit der deutschen Nation wiederherzustellen, war erklärtes Ziel westdeutscher Regierungen. Die Präambel des Grundgesetzes transportierte dieses Staatsziel.
Allerdings muss das, was verfassungsrechtlich aufgegeben ist, auch von den Bürgern mitgetragen werden. Im Laufe der Jahrzehnte ging dieser Wille zur Wiederherstellung des deutschen Nationalstaates in manchen akademischen Kreisen verloren. Unter diesen Politikern und Publizisten entwickelte sich die fixe Idee, dass die Teilung Deutschlands der Preis sei, den die Deutschen für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust zu bezahlen hätten. Andere sprachen davon, dass der Friede in Europa nur mit der Teilung Deutschlands gewahrt werden könne. Eine dritte Argumentationslinie besagte, dass wir in Europa aufgrund des europäischen Integrationsprozesses in eine postnationale Ära eingetreten seien, in der ohnehin Nationalstaaten, vom Format und von der Kompetenz her gesehen, keine Rolle mehr spielten.
Diese verschiedenen Argumentationsfiguren verstellten mit moralischen Bedenken und friedenspolitischen Vorwürfen jedoch den Blick auf die Realität. Mithin gehörte zur Lebenslüge von Teilen der politischen Repräsentanz West-Deutschlands, mit der deutschen Nation abgeschlossen zu haben. Aus fortschrittlich-postnationaler Sicht war das Denken in nationalstaatlichen Kategorien gefährlich, rückständig und schlicht nicht mehr zeitgemäß. Eine schwierige Lage für eine politische Kultur, wenn namhafte Kreise offensichtlich bzw. de facto in Konflikt geraten mit einem maßgeblichen Staatsziel und der Realität – denn die Nation bestand ja weiterhin auch in der Teilungsphase fort. […]
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019