Immer wieder montags Warum wir über eine populistische »Volks«-Erinnerung reden müssen

Von Ralph Jessen

Die Erinnerung an 1989 ist und bleibt umkämpft. Dabei herrscht an Wissen über die Geschichte dieses Jahres kein Mangel. Ebenso zuverlässig wie zum zwanzigsten Jahrestag werden wir auch zum dreißigsten Jahrestag der Ereignisse, die zum Zusammenbruch der SED-Diktatur und zum Ende der DDR geführt haben, mit neuen Studien und Sammelbänden rechnen können. Ob sie allerdings auch Neues zu berichten haben, wird sich zeigen. Aber ganz gleich, wie viele Details wir noch über die unerwarteten Wendungen jenes Jahres erfahren werden, »als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte«[1]: Weder wird dieses Wissen zu einem allseits geteilten Geschichtsbild noch zu einem nationalen Erinnerungskonsens führen. Unter den Bedingungen einer freien und pluralen Öffentlichkeit ist ein einheitliches Bild weder zu erwarten noch zu wünschen.

Auch dreißig Jahre danach ist nicht erkennbar, dass die Sicht auf den Umbruch von 1989 aus  der Sphäre des kommunikativen und kollektiven in die des kulturellen Gedächtnisses  übergeht, wo sie sich in Master narratives, nationalen Erinnerungsorten und einer kanonisierten Symbolik sedimentiert. Die anhaltende Symbolschwäche des »Tages der deutschen Einheit« zeigt dies ebenso wie die sich seit Jahren hinschleppende Diskussion um ein nationales Denkmal und die periodisch aufflammenden Auseinandersetzungen um die »Aufarbeitung der SED-Diktatur« oder die Zukunft des »Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes«.[2]

Anlässlich des zwanzigsten Jahrestages hatte Martin Sabrow im Hinblick auf 1989 drei dominierende Erinnerungsstränge unterschieden: Erstens die Revolutionserinnerung, die in der Formel von der »Friedlichen Revolution« zum Schlüsselbegriff der historischen Aufarbeitung und der staatlichen Geschichtspolitik geworden ist und in der Wendung von der »verratenen Revolution« zum Erinnerungsnarrativ einiger enttäuschter ehemaliger  Bürgerrechtler gehört, die seinerzeit auf der Suche nach einem »Dritten Weg« waren. […]

Anmerkungen

[1] So der Untertitel eines Bandes zum 20. Jahrestag: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009.

[2] Zur »Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ›Aufarbeitung der
SED-Diktatur‹« siehe Martin Sabrow (Hg.), Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, Göttingen 2007; zum BStU siehe Deutscher Bundestag, 18. Wahlperiode, Bericht der Expertenkommission zur Zukunft der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), Bundestagsdrucksache 18/8050, 05.04.2016, URL: http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/18/080/1808050.pdf
[eingesehen am 05.03.2019].

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019