Freiheitsrevolution 1989 und Einheitsrevolution 1990 Eine Geschichte mannigfacher Paradoxien
Im Herbst 1989 brach die SED-Diktatur durch das indirekte Zusammenspiel von exit und voice, von Flucht- und Demonstrationsbewegung,[1] wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Der »große Bruder« Sowjetunion, das »Vaterland aller Vaterländer«, war unter Michail Gorbatschow im Gegensatz zu früher keineswegs mehr zur militärischen Intervention bereit. Ohne diesen Konstellationswandel wäre es weder zur viel beschworenen »Wende« von der Diktatur zur Demokratie gekommen noch zum »Ende« der Deutschen Demokratischen Republik, wie sie sich wider jede Berechtigung bezeichnet hat. Nach dem Fall der Mauer hieß es dann auf den Straßen bald nicht mehr »Wir sind das Volk«, sondern »Wir sind ein Volk« – die Freiheitsrevolution ging binnen Kurzem in eine Einheitsrevolution über. Am 3. Oktober 1990, kein Jahr nach dem von den Granden gefeierten vierzigsten Jahrestag des »Arbeiter- und Bauernstaates«, gab es die DDR nicht mehr. Freiheits- und Einheitsrevolution hängen durch den bekundeten Willen der DDR-Bürger eng zusammen.
Im ersten Teil dieses Textes kommt das Ende der SED-Diktatur zur Sprache – zum einen am Beispiel mutiger Bürgerrechtler, die den Boden für den Einsturz des Systems bereitet haben, u.a. Roland Jahn, Marianne Birthler, Joachim Gauck; zum anderen am Beispiel des Schicksals der DDR-Oberen Erich Honecker, Egon Krenz und Hans Modrow, die plötzlich abgehalftert wurden, sei es durch Kräfte aus den eigenen Reihen, sei es auf demokratisch legitimierte Weise. In beiden Fällen – bei den Bürgerrechtlern wie den Repräsentanten des Systems – handelt es sich um Personen aus der DDR. Im zweiten Teil, zeitlich mit dem Beginn der deutschen Einheit zusammenfallend, stehen zum einen, mit Blick auf die Währungsreform, Theo Waigel, Horst Köhler und Thilo Sarrazin im Vordergrund – ein aus heutiger Sicht merkwürdig anmutendes Dreigestirn –; zum anderen, mit Blick auf die außenpolitische Dimension, Helmut Kohl, Michail Gorbatschow und George Bush. […]
Anmerkungen
[1] Vgl. Albert O. Hirschman, Abwanderung, Widerspruch und das Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik. Ein Essay zur konzeptionellen Geschichte, Jg. 20 (1992), H. 3, S. 330–350.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019