Von Erfahrungen und Erwartungen Konsum und der Systemwechsel von 1989/90
In seiner Fernsehansprache anlässlich des Inkrafttretens der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990 prognostizierte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl die Verwandlung Ostdeutschlands in »blühende Landschaften […], in denen es sich zu arbeiten und leben lohnt«[1]. Kohls Satz gehört zu den wohl bekanntesten im Kontext des Systemwechsels von 1989/90 geäußerten ökonomischen Zukunftsvorstellungen. Nur wenige Monate zuvor hatte Otto Schily (SPD) während einer Fernsehsendung den Wählerinnen und Wählern in der DDR eine ähnliche Erwartung unterstellt. Für Schily war nach der Volkskammerwahl im März 1990 vollkommen klar: Die Allianz für Deutschland (CDU, DSU, DA) hatte gewonnen und die SPD verloren, weil die Ostdeutschen keine politischen Visionen mehr, sondern Wohlstand und Konsum erwarteten. Um seinen Punkt zu unterstreichen, hielt Schily eine Banane in die Kamera. Mit ihrem Programm für eine schnelle Vereinigung mit der Bundesrepublik und die Umgestaltung der ostdeutschen Wirtschaft nach marktwirtschaftlichen Kriterien erhielt die Allianz für Deutschland 40,8 Prozent der Stimmen – und das, obwohl es, worauf Marcus Böick hingewiesen hat, gar keinen eindeutigen Plan für die ökonomische Transformation gegeben hatte, sondern lediglich ein Nebeneinander unterschiedlichster »Marktordnungsvorstellungen«[2]. Abgeschlagen auf dem zweiten Platz, nur fünf Prozentpunkte vor der PDS, landete die erst im Oktoberv1989 in der DDR wiedergegründete SPD mit einem Stimmenanteil von 21,9 Prozent. Zwar strebte auch die SPD eine Einführung der sozialen Marktwirtschaft auf dem Gebiet der DDR an, allerdings nicht auf dem Weg einer Übernahme des westdeutschen Modells, sondern durch eine graduelle Anpassung.
Sowohl die Deutung des Wahlergebnisses durch Otto Schily als auch das Wahlergebnis selbst wirft die Frage auf, welche wirtschaftlichen Erwartungen die Wählerinnen und Wähler mit ihrem Votum verbanden. Wie stellte sich die ostdeutsche Bevölkerung die zukünftige Entwicklung ihres Lebensstandards vor? Inwiefern prägten vergangene lebensweltliche Erfahrungen und Ereignisse die ökonomische Erwartungsbildung und beeinflussten das Handeln der ostdeutschen Bevölkerung? […]
Anmerkungen
[1] Vgl. das Skript der Fernsehansprache vom 1. Juli 1990, URL: https://www.helmut-kohl.de/index.php?msg=555 [eingesehen am 28.02.2019].
[2] Marcus Böick, »Das ist nunmal der freie Markt«. Konzeptionen des Marktes beim Wirtschaftsumbau in Ostdeutschland nach 1989, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Jg. 12 (2015), H. 3, S. 448–73, hier S. 471.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019