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Editorial

Schwerpunkt

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Franz Walter

Die Jugendbewegung auf dem Berg Der Hohe-Meißner-Mythos

Im Oktober 1913 versammelten sich rund 3.000 Jugendliche auf dem Meißner – Anhänger unterschiedlicher Strömungen der Jugendbewegung. Sie trafen sich zu einem Alternativfest zur Einweihung des Völkerschlachtdenkmals. Obwohl keine formalisierte Organisation der gesamten Bewegung existierte, War die Hörigkeit gegenüber „Führern“ und „Lehrern“ viel größer als in organisierten Hierarchien. Statt gewichtiger Worte überwog schwülstiger Pathos. Und die tatsächliche Wirkung der ideologischen Reden auf die hauptsächlich singenden und tanzenden Jugendbewegten bleibt ohnehin fraglich. Mit ähnlicher Begeisterung meldeten sich zahlreiche Teilnehmer des Meißner-Festes ein Jahr später als Kriegsfreiwillige. Franz Walter schildert die mythische Zusammenkunft, ihre Ursachen und Konsequenzen.

Florian Illies

»Es ist seitdem nicht mehr viel dazugekommen.« Ein Gespräch mit Florian Illies über Kunst und Gesellschaft 1913

Der Kunsthistoriker Florian Illies hat ein Buch über das Jahr 1913 geschrieben, in dem er für viele Felder und anhand vieler Personen ergründet, welche Entwicklungen sich in Bevölkerung, Kunst, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft langsam und kaum sichtbar anbahnten und überschnitten. Warum eine Zeit, eine Epoche nicht monolithisch in einer einzigen Entwicklung gefasst werden kann, was das Nachfühlen der Ergebnisoffenheit einer Zeit für einen Autor bedeutet und was ihn am Europa des Jahres 1913 so fasziniert hat, darüber haben wir mit Florian Illies gesprochen.

Franz Walter

Bebel – Ebert – Brandt Schicksalsjahr der deutschen Sozialdemokratie

1913 war ein Jahr, in dem sich für die SPD viele Entwicklungslinien kreuzten: Man konnte ein halbes Jahrhundert des Bestehens feiern. Mit August Bebel starb der legendäre Parteivorsitzende der Gründungszeit. Mit Friedrich Ebert kam der spätere erste Reichspräsident an die Parteispitze. Und Willy Brandt wurde geboren. Der Aufstieg als soziale Bewegung kam zu einem langsamen Ende und ging über in die Daseinsform einer Massenpartei. Was dies für die Partei alles bedeutete, welche Chancen und Gefahren sich zum Abschluss der Vorkriegszeit für die SPD eröffneten, analysiert Franz Walter.

Sam Roberts

»A Tribute to the Glory of Commerce« New York’s Grand Central Terminal

Also in America 1913 was a seminal year. 1913 can account for several breakthroughs in the industry as well as in the architecture of social life. But there is one event of technical grandiosity that would transform Americas most populous city, New York, forever: the opening of Grand Central Terminal on February 2. In his history of New York’s Grand Central Station Sam Roberts presents us not just with insights into the Zeitgeist of 1913 but also drafts a vivid picture of the altering appreciation of an icon of modernity, that at the time of its founding was carped to be neither grand nor central.

Robert Lorenz

Als Politiker versagt Franz Joseph I., Nikolaus II., Wilhelm II. und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs

Als Ursache für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges galt lange Zeit der imperialistische Übermut größenwahnsinniger Monarchen. Tatsächlich wollten die drei Herrscher – Wilhelm II., Nikolaus II. und Franz Joseph I. – aber einen europäischen Großkrieg vermeiden. Dass ihnen dies trotz ihres Willens nicht gelang, zeugt von ihrer Unfähigkeit, den Verlauf vermeintlich festgelegter Prozesse zu verändern. Am Beispiel der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ verdeutlicht Robert Lorenz in seinem Beitrag den Stellenwert, den politisches Führungsgeschick in Krisensituationen haben kann.

Martin Eybl

Neue Musik sucht ein neues Publikum Das Wiener Skandalkonzert vom März 1913

Das Jahr 1913 steht exemplarisch dafür, dass sich die Moderne in Kunst und Kultur durchsetzte. Anhand eines eines Skandalkonzertes beschreibt Martin Eybl anschaulich, wie sich die neue Musik um Arnold Schönberg und den Akademischen Verband für Literatur und Musik daran versuchte, in Wien zu etablieren. Die Aufführung von Schönberg im März 1913 endete, nachdem jedes Stück mit Applaus auf der einen und Pfiffen und Buh-Rufen auf der anderen Seite begleitet worden war, in Handgreiflichkeiten und Tumulten. Eybl dokumentiert, wie Komponisten, Musiker und Förderer der neuen Musik im öffentlichen Raum neue Foren besetzten, das gewöhnliche und auf Abstand gehende Publikum ignorierten und sich moderne Zuhörer suchten.

Michael Lühmann

Das anthroposophische Warenhaus Über die bürgerliche Sehnsucht nach einer anderen Moderne

Ob Bildung, Landwirtschaft, Gesundheit, Finanzen und Wirtschaft – eine andere Moderne ist möglich. Davon geht die Anthroposophie aus, die Michael Lühmann in seinem Beitrag ergründet. Lühmann schreibt über die Anthroposophie als „bürgerliche Sehnsucht nach einer anderen Moderne“, geht den intellektuellen Wurzeln dieser „kritischen Gegenerzählung“ seit den 1900er-Jahren nach und macht deutlich, weshalb Waldorf und Wirtschaft auch heute – vielleicht besser denn je – zusammengehen. Schließlich lieferten stets Krisen der Anthroposophie Vorschub.

Anna Bergmann

Am Vorabend einer neuen Sexualmoral? Die Debatte um den »Gebärstreik« im Jahr 1913

In der Gebärstreikdebatte von 1913 manifestierte sich eine Entwicklung, welche die sexuelle Ordnung der christlich-bürgerlichen Gesellschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts infrage stellte. Sowohl Gebärzwang als auch Gebärverhinderung standen im Zeichen der Utopie eines „erbgesunden Volkskörpers“. Anna Bergmann befasst sich mit einer Diskussion, in der christliche, sozialistische, eugenische und feministische Positionen zu ungewöhnlichen Allianzen führten.

Heinz-Peter Schmiedebach

Das Leiden an der modernen Welt Über das Phänomen der Neurasthenie

Ein eigenartiges Phänomen von massenhafter Erschöpfung wurde um das Jahr 1913 herum viel diskutiert: die Neurasthenie. Heinz-Peter Schmiedebach analysiert die Neurasthenie jener Zeit, vergleicht sie mit dem heutigen Burn-Out-Syndrom und beschreibt einen Doppelcharakter, der der Neurasthenie innewohne: Auf der einen Seite drückt sie ein Unbehagen gegenüber der Modernisierung aus; auf der anderen Seite ist sie selbst ein Antriebsmotor des Wandels.

Otto-Eberhard Zander

Drei Hochzeiten und ein Bündnisfall Ehen als Instrumente adeliger Machtpolitik

Dynastische Eheschließungen waren seit Jahrhunderten ein gängiges Mittel europäischer Herrscherhäuser, um für stabile politische Verhältnisse zu sorgen. Otto-Eberhard Zander zeigt, wie geplante Hochzeiten Bündnisfälle garantieren, Machtpositionen zementieren und strategische Allianzen schmieden sollten. Doch weder bei der arrangierten Hochzeit der Tochter von Wilhelm II. im Jahr 1913 noch bei vorangegangenen Eheschließungen griff dieses Kalkül, schreibt Zander und erörtert die Gründe, weshalb im Vorjahr des Krieges die geplante Hochzeit keinen Frieden mehr stiften konnte.

Martin Sabrow

Zäsuren des Jahrhunderts Das Dilemma historischer Zeitgrenzen

Die Vergangenheit muss – um sie verstehen und erklären zu können – periodisiert werden. Hierfür macht der Historiker Martin Sabrow in seiner Analyse die „Zäsur“, die Zeitabschnitte voneinander abgrenzt, fruchtbar. Er arbeitet dabei nicht nur die Begriffsgeschichte der Zäsur heraus, sondern auch ihre Funktionen und Wirkungen, die durchaus komplex sein können, da Zäsuren kaum im Ereignis selbst stecken, sondern von Zeitgenossen oder Interpreten der Vergangenheit nachträglich hineingedeutet werden.

Perspektiven

Jöran Klatt

Hannah und die Ironie Hans Landa, ein (post)moderner Adolf Eichmann?

Hannah Arendts Einschätzung, demnach Adolf Eichmann die „Banalität des Bösen“ verkörpere, ist einerseits geflügeltes Wort geworden, zugleich jedoch auch eine zutiefst umstrittene These geblieben. In der Figur Hans Landas, dem anpassungsfähigen Nihilisten und „Judenjäger“ aus Quentin Tarrantinos Blockbuster „Inglorious Basterds“, sieht Jöran Klatt eine postmoderne Aktualisierung dieser These verwirklicht.

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