Editorial

Von Michael Lühmann  /  Katharina Rahlf

Ein schwarzes Quadrat. Es steht, so Katrin Bettina Müller über Kasimir Malewitschs Werk, »am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wie ein Tor, durch das die Moderne einzieht«. Wie kein zweites Bild bricht das schwarze Viereck auf weißem Grund mit dem Gegenständlichen, auch dem Ornamentalen in der Malerei, steht also symbolisch für den endgültigen Einzug der Moderne in die Kunst. Zugleich illustriert es auch politisch »den großen Bruch«, den Felix Philipp Ingold im russischen Epochenjahr 1913 ausmacht. Malewitsch selbst sah in ihm den »Keim sämtlicher Möglichkeiten«. Nur: Außer dem Künstler selbst sieht dies 1913 kaum jemand, dem Kunstwerk fehlt (noch) das Publikum.

Das wiederum ist typisch für das Jahr 1913. Aus der Retrospektive erscheint es uns zwar bedeutsam – aber vor allem, weil wir bereits wissen, was danach kommt: der Erste Weltkrieg. Die »Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhun­derts«, wirft bereits ihre Schatten voraus. Allgegenwärtig scheint uns die Bedrohung des Krieges, in den die europäischen Großmächte, so Christopher Clark, schlafwandelnd hineintaumelten und damit besagten Keim sämtlicher Möglichkeiten in seiner grausamsten Variante aufgehen ließen. Und so asso­ziieren wir 1913 meist mit dem »großen Bruch« des darauffolgenden Jahres. Über das Jahr an sich wissen wir jedoch wenig.

Dabei war 1913 weit mehr als der Prolog des folgenden Krieges. Vielmehr brach der Keim der Moderne bildhaft durch alle Risse des im Vergehen be­griffenen Jugendstils; in Kunst und Kultur entstehen epochenbegründende Werke. Oswald Spengler verfasst den »Untergang des Abendlandes«, Thomas Mann beginnt den »Zauberberg« – und Marcel Duchamp schraubt ein Fahr­rad-Rad auf einen Küchenschemel. Die Zeitgenossen erfahren davon jedoch nur wenig – so wie auch wir heute nur wenig darüber wissen, welche zukünf­tig bedeutenden Kunstwerke gerade jetzt entstehen. Die über den Moment hinausgehende Bedeutung erschließt sich immer erst aus der Rückschau – und deshalb lohnt sich auch der Blick in die Vergangenheit, auf ein Jahr, das bei genauer Betrachtung eben mehr ist als »nur« Vorkriegszeit.

1913 ist auch das Jahr, in dem August Bebel stirbt, Willy Brandt geboren und Friedrich Ebert Vorsitzender der SPD wird. Ein Jahr überdies, in dem ein letztes Mal die alten Monarchen Europas eine Fürstenhochzeit feiern.

Es ist auch ein Jahr der ständig wechselnden Moden, das Grammophon folgt dem begeisterten Tausch von Photographien, während Telefonistinnen und empfindsame Intellektuelle an Neurasthenie leiden. Die zunehmende Beschleunigung, die rasende Moderne, sie setzt den Zeitgenossen zu. Es sind nervöse Jahre. Zugleich Jahre der Entzauberung der Welt; Darwin, die Hirnforschung, die Vernetzung der Welt durch die rasant zunehmende Mobilität – all das verändert die Wahrnehmung der Menschen, vor allem in den Städten, die weltweit neue Kathedralen der Moderne errichten, etwa das Woolworth Building oder die Grand Central Station. Sie sind Ausdruck einer urbanen Fortschrittseuphorie, die zugleich auf Gegenbewegungen stößt. Die Jugendbewegung zieht es auf den Hohen Meißner statt zum Leipziger Völkerschlachtdenkmal, Max Weber auf den Monte Verità, das Bildungs­bürgertum in Scharen zu okkultistischen Sitzungen oder zu den Vorträgen Rudolf Steiners.

Einhundert Jahre später kommt einem in der Rückschau diese Welt so fremd, so eigenartig und doch auch so vertraut vor. Die Jagd nach dem »Got­testeilchen«, der Siegeszug der Neurobiologie, die populäre Burn-out-Diagnose, das Gefühl der Beschleunigung in der digitalen Moderne – viele dieser auf den ersten Blick »neuen« Phänomene lassen sich so oder ähnlich bereits 1913 entdecken. Die globale Vernetzung mittels Social Media – vernetzt und globalisiert waren auch die Künstlerkreise des Jahres 1913 bereits par excel­lence; nur reisten sie per Eisenbahn von Moskau nach Florenz, schrieben sich Briefe im Stundentakt. Die Gegenbewegungen des Jahres 2013, sie zeigen sich in der transition-town-Bewegung, im urban gardening, in einer, so die Zeit, »Renaissance der Unvernunft« in Form eines Esoterik-Booms. Ein Boom, der sich aus einer »intensiven Beschäftigung mit dem Selbst« begründet, so der Religionssoziologe Detlef Pollack, die ihren Ausdruck in einer tiefen Inner­lichkeit findet. Und Innerlichkeit, so Florian Illies im Interview, ist wiederum auch eine der Chiffren des Jahres 1913.

Ein Jahr später war es indes vorbei mit der großen Innerlichkeit; die auf­keimende Moderne soll keine vollen Blüten treiben, sondern zerbirst in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges. Die »Keime alles Möglichen«, das Jahr 1913 zeigt es, sie hätten in einer künstlerischen Moderne aufgehen kön­nen – stattdessen vergehen sie in der Katastrophe. Das Schwarze Quadrat, es erscheint so auch als düstere Ahnung des Kommenden, die den Zeitgenossen jedoch weitgehend verborgen war. Unser Bedürfnis nach sinnstiftender zeit­licher Ordnung, nach Zäsuren also, kann eben oftmals erst aus der Rückschau gestillt werden, wie Martin Sabrow erläutert; die zeitgenössische Erfahrung allein ordnet häufig noch nichts.

Und so erscheint 1913 – aus der Perspektive von 2013, also mit dem Abstand von einhundert Jahren – vor allem auch als Warnung dafür, wie schnell vermeintliche Sicherheiten wegbrechen können. Jean Claude Juncker hat vor wenigen Monaten, angesichts des rauen Tons zwischen Nord-und Südeuropa im Zuge der Schuldenkrise, vor einem Umkippen der Stimmung in Europa gewarnt. Natürlich sind solche Parallelen mit Vorsicht zu ziehen. Dennoch: Auch die Zeitgenossen des Jahres 1913 ahnten zum Großteil nicht, was auf sie zukam. Vielleicht wären auch wir tatsächlich gut beraten, die Gegenwart, wie Florian Illies anrät, »etwas demütiger« wahrzunehmen, »als einen Augenblickseindruck und als etwas, was sich jederzeit ändern kann«. Mit eben diesem offenen Blick, der Annahme, dass es keine aus der Gegen­wart eindeutig erkennbare, zwingend logische Entwicklung gibt, haben wir auch in die Zukunft geschaut: 2013 ist auch das Jahr der Bundestagswah­len – und noch ist deren Ausgang ungewiss. Für jede Variante aber gäbe es nachvollziehbare Erklärungen. Auch hier sieht man wieder einmal: Erst die Retrospektive wird zeigen, wer »Recht« hatte. Die Gegenwart selbst lässt vieles möglich erscheinen.

Von all diesen Ungewissheiten, den vermeintlichen Eindeutigkeiten und trügerischen Sicherheiten erzählt die vorliegende Ausgabe der INDES.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 2-2013 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2013