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Editorial

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Franz Walter

Veränderung und Stillstand Zur Ambivalenz der 1990er Jahre

Franz Walter analysiert in seinem Beitrag Ambivalenzen der 1990er Jahre und stellt die Frage, inwiefern das Jahrzehnt von gesellschaftlicher Veränderung oder von Stagnation geprägt war. Die „Stillstands-Debatte“ der 1990er Jahre bezeichnet er als Elitendiskurs, schließlich waren enorme Beschleunigungen u.a. im Finanz- und Wirtschaftsbereich auszumachen, zudem erlebten frühere DDR-Bürger die Umbruchjahre als einen „Albtraum des Gejagtwerdens“. Das Aufkommen der Neuen Medien, der Erfolg populistischer Stilmittel, die Umsetzung umfassender Reform- und Privatisierungsmaßnahmen sowie das Prinzip der „Alternativlosigkeit“ prägten die politische Arena Deutschlands, verwandelten sie indes nicht in Gänze. Strukturen des alten westdeutschen Modells überdauerten, was Deutschland in den ökonomischen Krisenjahren nach 2008 dann stützen sollte.

Dagmar Bussiek

»Aufbruch in eine andere Welt« Die 1990er als Kulturjahrzehnt

Die Kulturhistorikerin Dagmar Bussiek spricht im Interview über die Kultur der 1990er. Individualisierung, der Ruf nach Mobilität und Flexibilität, aber auch Massenarbeitslosigkeit und zunehmende Ausländerfeindlichkeit prägten dieses Jahrzehnt; am Ende stand die Deutsche Einheit. Doch in puncto Familienbild und Geschlechterrollen gab es, so Bussiek, eklatante Unterschiede zwischen Ost und West. Der Schlachtruf „Girl Power“, Körperkult, Magersucht – auch dafür stehen die 1990er Jahre. Bussiek ergründet all diese kulturellen Phänomene und charakterisiert die 1990er als „Jahrzehnt des Aufbruchs“.

Wolfgang Engler

Ein Staat, zwei Erzählungen Das »andere Deutschland« im Rückblick

Wolfgang Engler beleuchtet die Tücken, Fallstricke und Fehler der deutsch-deutschen Erinnerungskultur. Am Beispiel Helga M. Novaks zeichnet er die Auswirkung des verzerrten kollektiven Erinnerns für das Individuum und letztlich die gesamte Gesellschaft nach. Er verdeutlicht die Schwierigkeiten des Balanceaktes der Wiedervereinigung und die damit einhergehende Bedeutung für die Bürger der DDR und ihrer Kultur.

Thomas Schmid

Sehnsucht nach dem großen Zampano Italien zwischen Rebellion und Apathie

In den 1990er Jahren wurde Italien von Korruptionsskandalen erschüttert – und es begann der Aufstieg Silvio Berlusconis, dessen Erfolge symptomatisch für die andauernde politische Krise des Landes sind. Damals, Anfang der 1990er, konnte sich Berlusconi als unideologischer Macher inszenieren, der mit dem Parteienzwist und der chronischen Instabilität der staatlichen Institutionen aufräumen würde. Doch erwies er sich nur als ein besonders versierter Betreiber jener „Windmaschine“, deren Funktionieren Thomas Schmid zufolge die Lust der Italiener an Pomp und Inszenierung bedient, aber für jenen „rasenden Stillstand“ sorgt, der, so Schmid, die Neuere Geschichte Italiens seit jeher prägt.

Stephan Merl

Nach Glasnost und Perestrojka Russland unter Gorbatschow, Jelzin und Putin

Russland erlebte in den 1990er Jahren eine Reihe wirtschaftlicher und politischer Strukturreformen, die zunächst zu einer weitgehenden Verelendung der Unterschichten und zur Etablierung einer kleinen Oberschicht aus Superreichen führten, während der Demokratisierungsprozess bereits mit den autokratischen Herrschaftsmethoden Boris Jelzins kläglich versandete. Stephan Merl analysiert den auf Gorbatschows „Glasnost und Perestroika“ folgenden Transformationsprozess und zeigt, wie Wladimir Putin zu Beginn des neuen Jahrtausends zwar Schattenwirtschaft und Korruption eindämmen und soziale Reformen auf den Weg bringen konnte, die Rückschritte bei der politischen Demokratisierung des Landes aber durch einen neuen nationalistischen Patriotismus zu übermalen versucht.

Josef Klein

Blühende Landschaften – Scheinasylanten – Globalisierung Sprache und Politik in den 1990er Jahren

Der Sprachwissenschaftler Josef Klein charakterisiert unter Anführung zahlreicher exemplarischer Ausdrücke die Sprache der 1990er Jahre in Bezug auf Politik und Gesellschaft. Dabei zeigt er unter anderem Begriffsnetze, Metaphern, Konnotationen und deontische Bedeutungen des politischen Diskurses vor und nach der Vereinigung und stellt diesbezügliche ost- und westdeutsche Besonderheiten vor.

Thomas Prenzel

»Das sind doch keine Menschen« Die Debatte um das Grundrecht auf Asyl und die Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen

Rostock-Lichtenhagen – das Progrom von 1992 als extremster Ausdruck rassistischer Gewalt ist bis heute „Symbol für Rassismus im wiedervereinten Deutschland“. Thomas Prenzel zeichnet im Kontext der damaligen Asylrechtsdebatte Verlauf, Form und Ausdruck des gewaltsamen Übergriffes nach und verweist abschließend auf die Aktualität des Themas, welches Gesellschaft und Politik auch weiterhin vor eine große Herausforderung stellt.

Kurt Gritsch

Ein »gerechter Krieg«? Der Intellektuellendiskurs über den Kosovo-Krieg 1999

Die Frage um ein militärisches Eingreifen in den Bürgerkrieg im Kosovo war eine der bedeutendsten Intellektuellendebatten der 1990er Jahre. Kurt Gritsch wertet Feuilletonbeiträge dieser Jahre aus, geht ihren Stoßrichtungen nach und stellt dabei insgesamt eine Überrepräsentanz der Befürworter einer NATO-Intervention auf dem Balkan fest. Die betreffenden Autoren zögen häufig Parallelen zum Zweiten Weltkrieg, die deutsche Vergangenheit verpflichte. Gritsch kommt zu dem Schluss, dass bei zahlreichen Intellektuellen Joschka Fischers Aussage, eine „neues Auschwitz“ zu verhindern, meinungsbildend gewirkt habe.

Tim Engartner  /  Oliver Laschet

Schlanker Staat, starker Markt Die Selbstentmachtung des Staates im Jahrzehnt der Wiedervereinigung

Die 1990er Jahre standen im Zeichen des „Liberalisierungsfundamentalismus“. Die Staatsquote sollte reduziert, die privatwirtschaftliche Initiative gestärkt und Bürokratien verschlankt werden. Das wirkte sich nicht zuletzt auf den staatlichen Wirtschaftssektor aus. Wichtige bundeseigene Unternehmen wurden privatisiert, darunter die Deutsche Lufthansa, die Deutsche Bundesbahn und die Deutsche Bundespost. Von den mit dieser Politik verbundenen Erwartungen, von ihren unmittelbaren Wirkungen und langfristigen Konsequenzen handelt der Beitrag von Tim Engartner und Oliver Laschet.

Wolfgang Kraushaar

Das Ende der RAF Ein gescheitertes identitätspolitisches Projekt

Die 1990er Jahre markierten auch den offiziellen Schlusspunkt des organisierten Linksterrorismus in der BRD. Mit einer „Abschiedserklärung“ verkündete die RAF im April 1998 via Nachrichtenagentur ihren eigenen Abritt. Wolfang Kraushaar schildert dieses Ende der Roten Armee Fraktion als Scheitern eines „identitätspolitischen Projekts“, zeichnet den vorangegangen Zersetzungsprozess nach und geht dem inneren Widersprüchen der Organisation, die nicht zuletzt aufgrund ihrer geradezu autistischen Selbstbezogenheit politisch unglaubwürdig und unwirksam geblieben war, auf den Grund.

Robert Misik

Exzentriker in der Politik Wie Haider, Berlusconi, Bossi & Co. den modernen Rechtspopulismus begründeten

Haider, Berlusconi, Fortyn - mit ihrem Aufstieg zu populistischen Parteiführern prägten sie den politischen Ton im Europa der 1990er Jahre. Sie und andere stehen für einen Rechtspopulismus, der mit neuer Wucht die etablierten Parteien als langweilige, überalterte Phänomene angriff und erst in der bürgerlichen Mitte und dann unter der traditionellen Klientel der Arbeiterparteien immer mehr Anhänger sammelte. Und sie prägten einen schillernden politischen Stil, der sich schroff abgrenzte von dem Gewohnten. Robert Misik schildert den Aufstieg politischer Narzissten als Folge des Abstiegs der traditionellen Parteiorganisationen.

Mainhardt Graf von Nayhauß

Unter den Linden/Ecke Wilhelmstraße Von Bonn nach Berlin

Der Hauptstadtumzug von Bonn nach Berlin war wohl das größte Bauprojekt der 1990er Jahre und hat die politische Kultur der Bundesrepublik entscheidend geprägt. Mainhardt Graf von Nayhauß beschreibt in diesem pesönlich-biografischen Essay seinen eigenen Umzug in die neue Hauptstadt und porträtiert nebenbei die Entstehungsphase der Berliner Republik und die sich wandelnde Rolle ihrer Politiker, Parteien, Medien und Kultur.

Petra Fröhlich

„Eine wahre Goldgräberstimmung“ Der digitale Pioniergeist in den 1990er Jahren

Die 1990er Jahre waren für die Digitalwelt eine revolutionäre Dekade, in der die Grundsteine für die heutige Nutzung von Computern und Internet gelegt wurden. Die INDES-Redaktion sprach mit Petra Fröhlich, die als Redakteurin eines großen Spielemagazins diese Zeit hautnah miterlebt hatte. Durch technische Innovationen avancierte der Computer in den 1990er Jahren vom Distinktionsmittel einiger Nerds zu einem Massenkonsumprodukt, das Internet vom esoterisch verschlossenen Mikrokosmos zum gebräuchlichen Kommunikationsmittel. Inzwischen sind Computer für Kinder zu einem selbstverständlichen Alltagsobjekt geworden, sodass die frühere Trennung in Nutzer und Nicht-Nutzer faktisch aufgelöst ist.

Perspektiven

Stine Marg  /  Franz Walter

»Zack, und morgen ist da ’ne Autobahn.« Wie Unternehmer Politik und Gesellschaft sehen – Ergebnisse eines aktuellen Forschungsprojekts in zwanzig Punkten

2013/14 hat das Göttinger Institut für Demokratieforschung rund 160 Unternehmensleiter in Einzelgesprächen zu ihrer Sicht auf Politik und Gesellschaft, ihrem Werdegang und ihren Wertvorstellungen befragt. Die Ergebnisse erhellen die soziale Elite der Unternehmer: So ist die Bereitschaft zu politischem Engagement ebenso gering wie die Akzeptanz von Direktdemokratie; Familienunternehmer sehen sich infolge der Spekulationskrisen mit Genugtuung als Stabilitätsanker; insgesamt sind die deutschen Unternehmer mit sich zufrieden, da sie sich ihren Pendants in anderen Ländern gegenüber im Vorsprung wähnen; mit Besorgnis blicken sie hingegen auf die steigende Wirtschafskraft Chinas, dort ließen sich unternehmerische Ziele aufgrund geringerer Vetokräfte schneller verwirklichen; Gewerkschaften gelten Unternehmern als vernünftige Kooperationspartner, auch blicken sie mit großem Respekt auf frühere Spitzenpolitiker der SPD, v.a. Gerhard Schröder; neben einem politischen Feindbild ist Unternehmern auch die Präferenz einer politische Partei bzw. ein politisches Lager abhandengekommen; Politiker empfinden sie als unterbezahlt, den Massenmedien begegnen viele mit extremer Kritik, teils Verachtung; Unternehmer arbeiten viel, doch sehen sie dies als Selbsterfüllungsquelle, weswegen sie mitunter wenig Verständnis für Work-Life-Balance-Debatten aufbringen; während sie den demokratischen Politikbetrieb als langsam und entscheidungsschwach empfinden, loben sie den Rechtsstaat.

Karin Priester

Der Tod als politisches Ereignis Anmerkungen zu den islamistischen Attentaten der letzten zehn Jahre

In ihrem Text „Der Tod als politisches Ereignis“ analysiert Karin Priester die islamistischen Attentate der letzten zehn Jahre. Anhand einer Zusammenschau der Lebenswege mehrerer Terroristen ermittelt sie Parallelen bei Lebensbedingungen sowie Werdegängen der Täter und identifiziert deren zentrale Handlungsmotive. Warum der Islamismus als einzige politische Herausforderung des Westens übrig geblieben ist, weshalb Islamisten heute nicht mehr Befreiungsideologen, sondern bloß noch Apologeten des Todes sind und wieso Gesetzesverschärfungen alleine wenig bewirken dürften – auch darüber schreibt Karin Priester.

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