Editorial

Von Lars Geiges  /  Katharina Rahlf

Die Momente erscheinen uns heute allgegenwärtig. Hans-Dietrich Genscher auf dem Prager Balkon stehend (»… um Ihnen mitzuteilen, dass heute […]«). Günter Schabowski mit seinem Handzettel während der Pressekonferenz am Abend des 9. November (»ab sofort, unverzüglich«). Feiernde Menschen auf beiden Seiten der Mauer, rund ums Brandenburger Tor – Hupkonzerte, Sektfontänen, grenzloser Jubel. Willy Brandts »Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört.« Keine zwölf Monate später, am 3. Oktober 1990, konnte Bundespräsident Richard von Weizsäcker feierlich vor dem Reichstagsgebäude verkünden: »Die Einheit Deutschlands ist vollendet.« Insbesondere 2014/15 – nunmehr ein Vierteljahrhundert nach »der Wende« – werden diese Bilder vielfach gezeigt. Doch sie sind nur die Ouvertüre zu einem beachtlichen Jahrzehnt: »Die 1990er Jahre« stehen im Fokus der ersten INDES-Ausgabe im Jahr 2015.

Die Geschehnisse der Jahre 1989/1990 waren historisch, bewegten die Welt, zerschlugen vermeintliche Gewissheiten und versprachen einen Aufbruch. INDES möchte entlang Analysen, Reportagen und Interviews zu Politik und Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur ein Portrait der bisher wissenschaftlich wie publizistisch wenig ausgeleuchteten 1990er-Jahre vorlegen. Nicht nur die Grenzen, die Ost und West teilten, öffneten sich. In der deutschen (Parteien-)Politik lösten sich ebenfalls konstant vermutete Bindungen: Bundestag und -regierung zogen vom beschaulichen Bonn nach Berlin, die Sozialdemokratie verschliss ihre Vorsitzenden in bisher nicht gekanntem Tempo, formulierte den marktsozialdemokratischen »Dritten Weg« und Begrifflichkeiten wie »Reformstau«, »Sparpaket«, »Sozialabbau« prägten die Debatten. Die Identifizierung und Beschreibung neuer Kriegsgegner und -ursachen sowie die Beteiligung an Kriegen sorgte auch für außenpolitische Unruhe. Kommunistische Parteien kommen ebenso an ihr Ende wie die RAF. Zudem scheint eine neue (Selbst-)Darstellungslust, eine vermarktbare Körperlichkeit die Jahre zu markieren. Kurzum: Hier wie da stoßen wir in den 1990ern auf beinahe rauschhafte Entfesselungen und Überschreitungen, gleichwohl auch auf erstaunliche Beharrungskräfte – zur wissenschaftlichen Ergründung all dieser (mitunter gegenläufigen) Entwicklungen möchte INDES beitragen.

Seite ausdrucken Download als PDF

Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2015 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015