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Editorial

Schwerpunkt

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Franz Walter

Ruhe im Sturm? Deutungsverlust und Demokratieschwund in der Krise

Was wir derzeit mindestens europaweit erleben, lässt sich mit Begriffen geringerer Dramatik wie „Probleme“ oder „Störungen“ nicht hinreichend charakterisieren. Viel spricht dafür, dass wir es in der Tat mit einer gravierenden Krise der Art zu tun haben, wie sie uns bereits während der Trendperioden 1873 ff. und 1923 ff., abgeschwächt auch in den Jahren 1973 ff. begegnet ist. Dieser Grundthese geht Franz Walter in seinem Text zu „Deutungsverlust und Demokratieschwund in der Krise“ nach und warnt dabei eindringlich vor den die demokratische Verfasstheit bedrohenden Tendenzen im Angesicht der unbegriffenen Krise.

Michael Makropoulos

Über den Begriff der „Krise“ Eine historisch-semantische Skizze

In seinem Aufsatz über den Begriff der „Krise“ nähert sich Michael Makropoulos mit Arnold Gehlen, Hans Blumenberg und Reinhart Koselleck der Krise zunächst semantisch und anschließend historisch. Er arbeitet dabei nicht nur die antike Einheit von Kritik und Krise nachdrücklich heraus, sondern ebenso die irreduzible Kontingenz in der Krisensituation an sich. Schließlich diskutiert er die Krise als Kennzeichen der Moderne, die Unsicherheit und Orientierungslosigkeit hervorruft, aber gleichzeitig – und das ist das Spannende – auf eine gewisse Art auch steuerbar sei.

Nikolaus Kowall

Die Volkswirtschaft ist eine Non-Profit-Organisation Warum Deutschland unter seinen Verhältnissen lebt

Strotzt die deutsche Volkswirtschaft nun vor Kraft oder steckt sie in der Krise, ist der Importüberschuss der entscheidende Indikator oder die Höhe der Staatsverschuldung? Mithin: Leben die Deutschen über ihre Verhältnisse oder nicht? Nikolaus Kowalls Antwort besteht zunächst in einer Unterscheidung von Staat und Privatwirtschaft sowie der Feststellung, dass der Staat nur ein Teilsektor der gesamten Volkswirtschaft ist. Über ihre Verhältnisse leben Volkswirtschaften, die mehr verbrauchen als sie produzieren, deren Saldo in der Leistungsbilanz also negativ ausfällt. Wenn die deutsche Volkswirtschaft dagegen durchgehend Leistungsbilanzüberschüsse verzeichnet und mehr exportiert als importiert, dann lebt sie demzufolge nicht über, sondern unter ihren Verhältnissen. Kowall plädiert daher dafür, die öffentlichen Ausgaben unvermindert fortzuschreiben und die Staatsverschuldung durch eine stärkere Besteuerung hoher Vermögen und Einkommen zu reduzieren.

Wolfgang Martynkewicz

Leiden und Größe? Die Ursprünge außergewöhnlicher Kreativität

Krisen werden als Durchgangsphasen angesehen. Wer sie durchlebt, geht gestärkt aus ihnen hervor. Allerorten werden die Selbstheilungskräfte beschworen: Demnach seien Krisen nicht als Depression zu betrachten, sondern als Herausforderung. Diese Auffassung, wonach aus der Krise stets Kraft und Kreativität erwachsen, prüft der Literaturwissenschaftler Wolfgang Martynkewicz und sieht dabei unter anderem nach bei Nietzsche, Mann, Kafka, Rilke, Wittgenstein und Musil. Er fasst zusammen: Krieg und Krise paralysieren. Und Kreativität entfaltet sich in den meisten Fällen erst nach oder bereits vor der Krise. Heutige Krisen kreieren indes keine neuen Anfänge mehr.

Sabine Maasen  /  Barbara Sutter

Spiel mir das Lied von der Krise Über Krisenbewältigungskompetenzen.

Im „Burn-Out“ der gegenwärtigen „Dauerkrise“ wird das „Downshifting“ als vermeintlich radikale Lösung einer echten Krise zum Mittel der Wahl, erklären Barbara Sutter und Sabine Maasen in ihrem Aufsatz. Interessanterweise zeigt das „Downshifting“ aber nur bedingt, dass das Leiden an äußeren Zwängen erträglich gestaltet werden soll. Vielmehr erkenne man in ihm, dass Menschen an der selbst auferlegten Norm zur Höchstleistung leiden. So liefert das „Downshifting“ einen Schutzmechanismus, um nicht vor der Normalität der eigenen Höchstleistung kapitulieren zu müssen.

Markus R. Pawelzik

Ausgebrannt! Warum wir nicht leisten können, was wir uns selbst abverlangen

Die Diagnose „Burn-Out“ erscheint wie eine neuartige Zivilisationskrankheit ? Zu viel Stress, zu viel Geschwindigkeit, zu wenig Ruhe und Abstand. Im Gegensatz zu fest etablierten psychischen Krankheiten wie Depressionen, Angst- oder Essstörungen ist Burn-Out allerdings keine spezifizierbare, anerkannte Krankheit mit einem festen Krankheitsbild und prüfbaren Kriterien. Warum sich Menschen in manchen Situationen überfordert fühlen, in anderen dagegen an Stress wachsen, warum einige mit Druck besonders gut umzugehen lernen und andere nicht, und was eine gesamtgesellschaftliche Befindlichkeit mit der Entstehung von subjektiv wahrgenommenen Krankheitsbildern zu tun hat? Darüber haben Matthias Micus und Katharina Rahlf mit Dr. Markus R. Pawelzik gesprochen.

Daniela Kallinich

Frustrierte Bonvivants Über Frankreich in der Krise

Die Stimmung in Frankreich ist auf einem Tiefpunkt angelangt. Daniela Kallinich sucht in ihrem Text nach Gründen für die französische „malaise“. Dabei stößt sie auf soziale Bruchlinien, deren zeitlichen Ursprung sie auf das Ende der „trentes glorieuses“ im Gefolge der Ölkrisen in den 1970er Jahren datiert. Bedeutung kommt insbesondere dem Erfahrungsgraben zwischen „inclus“ und „exclus“ zu, also den In- und Outsidern, mithin jenen Gewinnern, für welche die Globalisierung ein großes Versprechen ist, und den Verlierern, für die sie eine einzige Bedrohung darstellt. Die Gefahr für das politische System insgesamt ist diese gesellschaftliche Markscheide nicht zuletzt deshalb, weil die soziale Polarisierung Wasser auf die Mühlen der populistischen Kräfte und insbesondere des Front National auf der äußersten Rechten ist.

Laura Fernández de Mosteyrín

Gehen oder bleiben? Die Emigration junger Spanier während der Krise

Laura Fernández de Mosteyrín fasst in ihrem Artikel die Ergebnisse eines Forschungsprojektes über spanische Jugendliche zusammen. Sie untersuchte zwischen 2007 und 2010 die Auswirkungen der Veränderung auf dem Arbeitsmarkt, besonders für diejenigen Jugendlichen in Spanien, die von sozialer Exklusion bedroht sind. Mosterín schaut anhand von Einzelfallbeschreibungen sehr genau hin und arbeitet anschaulich unterschiedliche Fälle der Bewältigung der Unsicherheit heraus, die zwischen Empörung, Frustration und Abwanderung aus dem eigenen Land variieren.

Eiríkur Bergmann

Nach dem Crash Krisenmanagement in Island

Erst Wunderland, dann Krisenstaat: Der isländische Politikwissenschaftler Eirikur Bergmann zeigt, wie Island auf den Crash seiner vormals gefeierten Banken reagiert hat. In einem für die Bevölkerung offenen Verfahren und mit hitzig geführten breiten Debatten überarbeitete Island als Reaktion auf die Krise seine Verfassung. Der Vorgang kam einem Neuanfang gleich. Er löste eine Welle an Ideen aus. Vor dem Hintergrund einer sich wieder erholenden Wirtschaft kommt Bergmann heute zu dem Schluss: Island hat ein günstiges Gelegenheitsfenster für Veränderungen genutzt.

Franz Walter

Hungerkanzler in tiefster Depression Der katholische Preuße Heinrich Brüning

Franz Walter nähert sich in seinem Portrait Heinrich Brünings, Reichskanzler vom 28. März 1930 bis zum 30. Mai 1932, den Ambivalenzen jener Jahre, in denen Brüning – obgleich dem vermeintlichen bürgerlichen Idealbild des nicht der politischen Egozentrik entrückten Staatsmannes entsprechend – doch nur Hass auf sich zog, wie kaum ein zweiter Kanzler in der Parlamentsgeschichte des Landes. Hatte Deutschland also das Unglück, so fragt Franz Walter weiter, in der schwersten ökonomischen und gesellschaftlichen Krise der Moderne von einem falschen, für die Aufgabe seinerzeit gänzlich ungeeigneten Mann ohne Instinkt, Fingerspitzengefühl und Fortüne regiert zu werden?

Perspektiven

Lars Geiges

Occupys Alltag Erkenntnisse über Protestcamps und Basisdemokratie

Lars Geiges befasst sich in seinem Beitrag mit den neuen Protestbewegungen, wie sie von einer Forschergruppe des Göttinger Instituts für Demokratieforschung unter seiner Beteiligung in der soeben abgeschlossenen BP-Gesellschaftsstudie eingehend untersucht wurden. Am Beispiel von „Occupy Wall Street“ spannt er ein breites Spektrum an Erkenntnissen auf: So widmet er sich der Sozialstruktur der Aktivisten und ihrem Demokratieverständnis, darüber hinaus ordnet er die Bewegung historisch ein, wenn er auf Kontinuitätslinien zwischen den Zeltdörfern in Whyl 1975 und der Düsseldorfer Occupy-Gruppe 2012 hinweist. Scheinbar nebenbei gelingt ihm obendrein eine aufschlussreiche Skizze der Probleme direktdemokratischer Entscheidungsverfahren.

Torben Lütjen

Monologe in der Echo-Kammer Wisconsin und die ideologisch-geographische Balkanisierung Amerikas

Mehr als je zuvor sind die USA bekanntlich ein ideologisch und parteipolitisch tiefgespaltenes Land. Dafür verantwortlich ist auch eine geographische Selbstsegregierung der Amerikaner, die sich in ihren Lebenswelten immer weiter voneinander entfernen. Am Beispiel der beiden Counties Madison und Waukesha im Swing State Wisconsin, beides jeweils Hochburgen von Demokraten und Republikanern, zeigt Torben Lütjen, welche nachhaltigen Konsequenzen der inneramerikanische Kulturkampf nach sich zieht.

Andrea Roedig

Meister der Begriffsdrachen Die sprachlichen Untugenden der Geschlechterforschung

Die wissenschaftliche Fachsprache ist zumeist ein Kondensat und eine Konzentration vorhergehender Debatten, bei denen man sich auf bestimmte Begriffsinhalte geeinigt hat. Somit wird aus Sprache selbst mit immer weiterer Konzentration ein Instrument, bestimmte Bedeutungen schon begrifflich zu unterstreichen oder zu unterdrücken. Der Distinktionshabitus vieler Wissenschaftsdisziplinen hat darüber allerdings eine Masse an Termini entstehen lassen, die der Klarheit sprachlicher Aussagekraft oft genug entgegensteht. Gerade auch die Gender Studies haben in dieser Hinsicht einen Fachjargon ausgeprägt, der es schwer macht, Außenstehenden das Nachvollziehen der Forschung zu ermöglichen. Und der darüber hinaus eine fachliche Entwicklung für die Aufnahme von Außeneinflüssen und die Weiterentwicklung zu lähmen droht.

Felix Butzlaff  /  Karin Schweinebraten

Wie der Soziologe Journalist wurde Die Chicago School of Sociology als Nukleus einer neuen Betrachtung gesellschaftlicher Modernitätskrisen

Wie wirken sich Modernisierungsprozesse auf ein Gemeinwesen aus? Diese Frage ist heute, unter den Vorzeichen wirtschaftlicher Unsicherheiten und Krisenlagen, nicht weniger aktuell als vor über hundert Jahren. Damals begann sich mit der Chicago School of Sociology eine bahnbrechend neue Forschungsperspektive auf die Wandlungen menschlichen Zusammenlebens zu etablieren. Die Großstadt war ihr Laboratorium, die unvoreingenommene Neugier und das Einfühlungsvermögen des Wissenschaftlers ihr Rüstzeug. Gerade in der soziologischen Phantasie und Sensibilität, so schreiben Felix Butzlaff und Karin Schweinebraten, liege der Wert der Chicagoer Schule – und ein triftiger Grund für die heutige Gesellschaftsforschung, sich von ihr inspirieren zu lassen.

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