Ruhe im Sturm? Deutungsverlust und Demokratieschwund in der Krise
Wir sind Zeitgenossen einer unzweifelhaft großen Krise
Liest der aufgeklärt-skeptische Sozialwissenschaftler diesen Eingangssatz, dann dürfte er wohl gleich genervt oder gelangweilt abwinken. Denn der »Krisen«-Begriff ist durch allzu großzügigen Gebrauch unscharf geworden,[1] dient als Etikett für allerlei Ungemütlichkeiten und Schwierigkeiten, die in großer historischer Perspektive allerdings kaum der Rede wert sind. Doch andererseits: Was wir derzeit mindestens europaweit erleben, lässt sich mit Begriffen geringerer Dramatik wie »Probleme« oder »Störungen« nicht hinreichend charakterisieren. Viel spricht dafür, dass wir es in der Tat mit einer gravierenden Krise der Art zu tun haben, wie sie uns bereits während der Trendperioden 1873 ff. und 1923 ff., abgeschwächt auch in den Jahren 1973 ff. begegnet ist. Ökonomische Einbrüche waren in allen Fällen primär. Aber ihre Wirkungen reichten weiter, strahlten in die politischen und kulturellen Bereiche der Gesellschaft aus. Erst das konstituierte die Wahrnehmung von Krisen, produzierte – wie man heute zu sagen pflegt – das Krisennarrativ. In diesem Zusammenhang wurden lang aufgebaute Erwartungen an die Zukunft enttäuscht; überlieferte Normen trugen nicht mehr zur plausiblen Deutung von Umwelt und Ereignissen bei. Allgemein gefasst: Die Wertemuster, welche Handlungen zugrunde liegen, verlieren im Akt der Krise an Überzeugungskraft und Rationalität, was Unsicherheit, zunächst auch Lähmung erzeugt, dann die Erosion von bisherigen Legitimationen zur Folge haben kann.
Krisen in diesem Sinne kann man als »große Transformationen« (Polanyi) bezeichnen. Sie öffnen Möglichkeitspforten für neue Deutungsmuster, Ideen und Handlungsmotivationen, bieten hierdurch Gelegenheiten für gelingende Neuformierungen[2]. Aber sie können auch Wertedeformationen, gesellschaftliche Paranoia befördern. Diese Interpretations- und Normenschicht, also die Wertefolie im Gewebe von Krise und Transformation, soll uns hier interessieren. Hans Rosenberg, der Historiker der »Großen Depression« von 1873 bis 1896[3], hat seine Analyse nicht allein oder auch nur in der Hauptsache auf den wirtschaftlichen Zyklus konzentriert, sondern ebenso auf das »psychische Phänomen« dieser Jahre, auf die »Wahnvorstellungen«, die »ideologische Gärung«, die komplette »Gesinnungs-, Glaubens- und Ideenverlagerung«, die schließlich zum über Jahrzehnte andauernden Ansehens- und Bedeutungsverlust des Liberalismus beigetragen haben. Dergleichen Umwertungen bis dahin gültiger Werte lassen sich ebenfalls während und im Gefolge der Hyperinflation 1923,[4] dann im Zuge der vielfach traumatisch erlebten Deflation in den frühen 1930er Jahren beobachten, mit den bekannt schwergewichtigen Folgen für politische Mentalitäten und das politische System.[5] Die Monate des ersten Ölpreisschocks 1973/74, der zeitgleich mit inflationären Entwicklungen und Vorboten einer Rezession aufkam, hatten ein für die weiteren 1970er Jahre dann typisches kollektives »Gefühl der Ungewissheit«[6] erzeugt. Inspiriert von Rosenberg haben Historiker wie Hans-Ulrich Wehler[7] und Jürgen Kocka[8] überdies häufig darauf hingewiesen, dass solche Transformationsprozesse nur schwer konstruktiv zu steuern sind, wenn sich die großen gesellschaftlich-politischen Herausforderungen in einem engen Zeitraum überschneiden oder »verschürzen«[9].
Als negatives Vorbild fungierte dabei die zeitliche Überschneidung von Verfassungsgebung, Nationalstaatsbildung und der Sozialen Frage im neuen Industrialisierungsprozess in Deutschland (und im Unterschied etwa zu Frankreich oder England) im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts. Ein stabiles und ruhiges Selbstbewusstsein, das in den Turbulenzen des frühen 20. Jahrhunderts hätte Halt geben können, konnte sich so nicht entwickeln. Ohne vorschnell parallelisieren zu wollen, wird man dennoch derzeit in Europa eine Konstellation feststellen können, in der sich grundsätzliche Herausforderungen, die je für sich schon der Politik gewaltige Anstrengungen und kluge Koordination abverlangen, zeitlich ebenfalls überlappen und dadurch gegenseitig erschweren: die explosiven Turbulenzen auf den Finanzmärkten, die gigantischen Lasten staatlicher Verschuldung, der Druck hin zu einem (aber wie?) legitimierten, transnationalen Institutionengefüge in Europa, eine denkbar komplexe und schwierige Verfassungsdiskussion hierüber, dazu die extremen demographischen Disproportionalitäten in den nächsten drei bis vier Jahrzehnten, auch die Konfrontation heterogener Kulturen und Religionen etwa durch Migration. Der Wiener Politikwissenschaftler Ulrich Brand charakterisierte eine solche Konstellation unlängst als »multiple Krise«, für deren Vielgliedrigkeit und Mehrdimensionalität die politischen Institutionen nicht gewappnet seien, ihr folglich konzeptionell und instrumentell auch nichts entgegenzusetzen vermögen.[10]
»Weltenmomente« und der Souverän als Störfaktor
Nicht selten werden derartige Problemkumulationen zur Stunde des »Ausnahmezustandes«, an dessen ungewöhnliche Interventionsmöglichkeiten sich die Träger der politischen Macht nicht ungern gewöhnen und den sie durch dramatisierende Rhetorik und schwer zu kontrollierende Spezialadministrationen zu verstetigen versuchen.[11] Denn jetzt weitet sich für einen kurzen Zeitraum das politische Spielfeld. Die Vetomächte müssen ihre Routineeinwände unter dem Druck der aufgeschreckten Öffentlichkeit zurückstellen. Der Exekutive werden in den Zeiten des Notfalls außerordentliche Befugnisse eingeräumt. Die sonst sperrigen Institutionen dürfen zwischenzeitlich übergangen werden. Helmut Schmidt, der Heros im Kampf gegen Hamburger Fluten und international agierende Terroristen, war ein großer Nutznießer solcher Kon- stellationen, auch Gerhard Schröder, dem ebenfalls die Wassermengen der Elbe zur rechten Zeit zur Heldenattitüde verhalfen. In der Außenpolitik gibt es historische Knotenpunkte, an denen die innenpolitischen Blockademächte nicht beteiligt sind und Spielräume sich öffnen. In einem solchen »Weltenmoment«, wie es der Historiker Leopold Ranke nannte, kann man als politischer Anführer einer Nation dann Geschichte machen, so Adenauer in den 1950er, Brandt in den frühen 1970er Jahren, Kohl 1989/90. Und Angela Merkel versucht es derzeit ebenso, mit wahrscheinlich nachhaltigeren und negativeren Wirkungen als ihre Vorgänger. Im politischen Establishment der modernen Demokratie setzt jedenfalls niemand ernsthaft jenseits politischer Petitessen und gezielt aufgepäppelter Skandale, die das enragierte Forenpublikum im Internet über Empörungsventile ablenken sollen, auf »mehr Demokratie wagen«. Die aktive Teilhabe des Souveräns diesseits der Wahlsonntage gilt vielmehr als Störfaktor für die Effizienz der Regierungsadministration. Die Politik offeriert vollendete Tatsachen, kleidet sie sodann in das Autoritätsgewand strikt zu befolgender Sachrationalität und versucht, sich so die strittige Debatte des unberechenbaren Lümmels, des Volkes also, vom Leib zu halten. Das ist mittlerweile die Verhaltensdoktrin gerade in der Europapolitik von Trittin über Steinbrück und Rösler bis hin zu Merkel.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2013 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2013