Editorial
»Krise« – kaum ein Schlagwort wurde zur Charakterisierung des Jahres 2011 und seiner vieldeutigen Ereignisse so oft gebraucht wie dieses. Die Wirtschafts- und Finanz-Krise weitete sich zur Euro-Krise und speziell in Irland, Griechenland sowie Spanien zur Schulden-Krise. In Deutschland entwickelt sich die Vertrauens-Krise der Parteien immer mehr zu einer Bestands-Krise des etablierten Parteiensystems, die von einer fortschreitenden Erweiterung des Parteienspektrums begleitet wird und zuletzt mit den Piraten sogar eine neue, netzpolitische Partei emporkommen ließ. Das Phänomen des »Wutbürgers«, der sich republikweit gegen Infrastrukturprojekte engagiert, zeugt darüber hinaus von einer Verfahrens-Krise bei der Planung und Durchführung innenstädtischer oder landschaftsverändernder Bauvorhaben. Schließlich waren in globaler Perspektive mehrere arabische Staaten im Jahr 2011 Brennpunkte blutiger Regime-Krisen. Mithin: Allerorten Krisen – doch ist offen, ob es sich dabei um einen vorübergehenden Niedergang oder einen unwiderruflichen Übergang in neue Zustände handelt. Jahrelang ging die Politikwissenschaft – auch in Göttingen – lediglich von episodischen Schwankungen der politischen Vertrauenswerte und des Partizipationsniveaus in konventionellen Beteiligungsformaten, bei Parteibindungen, Volksparteigrößen und Politikerbewertungen aus. Lange Zeit war das plausibel, da die Katastrophen nie so schlimm und die Zäsuren nie so scharf waren, wie das die Berichte aus den Redaktionsstuben der Zeitungen, Radiosender, Fernsehstationen und Onlinemedien vermuten ließen. Dagegen sprechen heute in der Tat viele Anzeichen für einen Epochenbruch, für eine fundamentale Transformation, die einen Einschnitt markiert und gängige Annahmen ungültig macht.
Dieses Heft inspiziert die Proteste empörter Bürger, die unlängst mit ihrer zivilgesellschaftlichen Rage für so viel Furore gesorgt haben; es fragt nach den Motiven der Aufständischen, geht den neuen – und sich mitunter als altbekannt entpuppenden – Formen des Widerspruchs nach. Indes: Es stellt auch die klassischen Akteure des politischen Systems auf den Prüfstand, schaut, ob und wie die vermeintlich gestrigen Parteien auf die bürgergesellschaftlichen Herausforderungen reagieren. Haben sie als Inbegriff des etablierten Systems dem Charme des Unkonventionellen überhaupt etwas entgegenzusetzen? Denn in Anbetracht des Furors, den das »Protestjahr 2011« verursachte, all der Aufmerksamkeit, die jene aufsehenerregenden Ereignisse auf sich zogen, gerieten die nach wie vor existierenden Institutionen allzu häufig ins Hintertreffen. Natürlich fasziniert vor allem das Neue. Nicht minder wichtig ist aber oftmals auch das, was sich dahinter, mehr im Verborgenen, abseits des großen Spektakels abspielt.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2013 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2013