Der redende, predigende, wandernde, reisende Meister, der zwischen den späten 1890er und frühen 1930er Jahren ein keineswegs seltener, durchaus auf neugierige Resonanz stoßender Typus war, gilt heute weithin als demagogischer Rattenfänger, dem mit Argwohn und Distanz zu begegnen ist. Franz Walter geht dem rauschhaften Phänomen des Meisters nach und ergründet, auf welche Weise unter anderem Rudolf Steiner, Leonard Nelson, Gustav Wyneken und Stefan George auf ihre „Jünger“ wirkten. Die getriebenen Meister herrschten über ihre Kleingruppen meist autoritär und diktatorisch. Nicht selten waren die Zirkel von Eifersucht, Konkurrenz und Neid geprägt. Und dennoch erwuchs aus diesem Klima des „pädagogischen Eros“ oft eine bemerkenswerte intellektuelle Kraft.
Schon das Sprechen über Rausch setzt eine Rationalisierung der Gedanken und das Sortieren der Argumente voraus. Das Gegensatzpaar Rausch und Rationalität sei deswegen eine Konstruktion, die dank einer „List der Vernunft“ konstruiert werde. Und jedes nachträgliche Schreiben über Rausch und die Erlebnisse darin sind eine nachträgliche Systematisierung durch Sprache und Ratio. Wie Rausch über den Lauf der Geschichte verstanden und verhandelt, verteufelt oder genutzt wird, liefert Einsichten darüber, was genau als rational, vernünftig oder nüchtern gilt. Denn die Vernunft braucht ein Spiegelbild als Gegenüber, schreibt Robert Feustel in seinem Beitrag.
Robert Lorenz und Matthias Micus beschreiben die gegenwärtige politische Klasse als Vertreter von „Karrierepolitikern“. Dabei schöpfen sie nicht nur aus ihrer jüngst veröffentlichten Studie „Von Beruf: Politiker. Bestandsaufnahme eines ungeliebten Stands“, sondern auch aus klugen Beobachtungen. Im Aufsatz argumentieren die Autoren, warum die Kritik an den amtierenden Partei- und Regierungschefs überzogen ist und welche Widersprüche und Gefahren diesen geringschätzigen Urteilen über die Politiker durchaus innewohnen können.
Teresa Nentwig arbeitet nicht nur den Skandal rund um das Plagiat des ehemaligen Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg auf, sondern analysiert auch das rauschhafte Vorgehen der Medien und einer hochaktiven Netzgemeinde in diesem Fall. Durch das massive Auftreten von Guttenberg-Befürwortern und -Gegnern sowie das zaudernde und widersprüchliche Verhalten des amtierenden Ministers kam es im Frühjahr 2011 zu einem handfesten Politikskandal – dessen Ursachen, Verkettungen und Wirkungen hier prägnant gezeigt werden.
Torben Lütjen erhebt in seinem Essay Einspruch gegen eine der derzeit gängigsten Gegenwartsdiagnosen – der Vorwurf, dass die Politiker unserer Zeit bloß Technokraten seien. Indem Lütjen die eigentliche Idee der Technokratie beschreibt sowie die Phasen der gesellschaftlichen Euphorie bezüglich Planbarkeit und Machbarkeit in den 1920er und 1960er Jahre analysiert, deckt er ein grundlegendes Missverständnis auf: Während Technokraten durch ihren Glauben an die Gestaltbarkeit der Zukunft im Grunde Utopisten seien, fehle genau diese Vorstellung vom Handeln den politischen Akteuren heute.
David Bebnowski beschäftigt sich in seinem Artikel mit den Thesen des Philosophen Robert Pfaller und geht der Frage nach, wie viel Rausch im Leben vernünftig ist. Dem Autor zufolge lässt unsere Kultur immer weniger Raum für die Unvernunft, die Spaß bereitet. Ausnahmesituationen wurden aufgehoben, machten einem sauberen Vergnügen Platz, es regiert nunmehr die Verbotskultur, die „reine Vernunft“ hat triumphiert. Postmodern aufgeklärt glauben wir dabei nur noch an uns selbst. Sein und Schein erscheinen deckungsgleich; die Vorstellungen von Menschen geraten dabei eindimensional. Um vernünftig zu sein, so formuliert Bebnowski, gehören Rausch und Rationalität aber untrennbar zusammen.
Christian von Eichborns Text dekuvriert die Illusion, den geradezu rauschhaften Glauben an die Rationalität und die Beherrschbarkeit von Risiken in der Finanzbranche. Eichborn sieht demgegenüber zwei fundamentale Widersprüche: zum einen zwischen der mathematischen Rechenhaftigkeit der Arbeit an den Finanzmärkten und dem rauschhaft irrationalen Konsum der Investmentbanker in ihrer Freizeit; und zum anderen zwischen dem blinden Vertrauen in die wissenschaftliche Gesetzmäßigkeit der Berechnungen und dem Optimismus, mit geradezu kopernikanischer Präzision die zukünftige Entwicklung prognostizieren zu können einerseits und der Tatsache, dass das vermeintliche Geschick in der Regel zu weiten Teilen pures Glück war, andererseits. Eben weil die – durchaus rationalen – Ängste, die angewandten Berechnungsmethoden könnten zu einem grundsätzlichen Versagen führen, ausgeschaltet und Zweifel verdrängt wurden, konnte die Finanzkrise ein Ausmaß annehmen, das zu weltweiten Erschütterungen führte und ganze Volkswirtschaften an den Rand des Zusammenbruchs brachte.
Thorsten Hasche arbeitet in seinem Text heraus, dass in der Finanzmarktkrise Rausch und Rationalität eng zusammenhängen. Unter Berufung auf die Schriften Niklas Luhmanns kritisiert er die gängigen Annahmen eines Gegensatzes zwischen einem rauschhaften Finanzkapitalismus und einem rational intervenierenden Wohlfahrtsstaat. Denn obwohl jeder gesellschaftliche Funktionsbereich – vom Sport über die Kultur bis hin zu Wirtschaft und Politik – eigenständig agiert, beeinflussen sie sich wechselseitig und sind vielfach miteinander verknüpft. Zudem folgt aus ihrer Eigendynamik, die ein Definitionsmerkmal der modernen Weltgesellschaft ist, dass die Wirkweise aller funktionalen Subsysteme in Extremsituationen grundsätzlich und gleichermaßen exzessiv und rauschhaft ausfallen kann. An Luhmann anknüpfend löst Hasche den Gegensatz von Rausch und Rationalität mithin in die Verbindung „rauschhafte Rationalität“ auf.
Lars Geiges widmet sich einer politikwissenschaftlichen Leerstelle: die Tafelrunde als Führungsinstrument. Wenn sich Politiker bei Tisch begegnen, gemeinsam Deftiges und Hochprozentiges zu sich nehmen, sieht man hieran nicht selten ein ganz spezifisches Vermögen subtiler Steuerung, Einflussnahme, Informationsbeschaffung. Die Beispiele Kohl, Brandt, Schmidt, Fischer und Schröder weisen Küche und Tafel als abgeschiedenes Kraft- und Machtzentrum aus – das nach und nach von der Cateringkultur verdrängt wird.
In seinem Text „Berauschtes Schreiben“ skizziert Jörg Magenau die Drogenerfahrungen Ernst Jüngers. Der Rausch ist bei Jünger zwar der Einstieg in tiefere Welten, jedoch stets ein begrenztes, kalkuliertes Experiment. So bleiben die rauschhaften Aufbrüche Jüngers, den Magenau als einen Feinmechaniker beschreibt, stets Annäherungen an einen transzendenten Zustand, den man im Lesen seiner Bücher nachverfolgen kann.
Die Demokratie wird es in den nächsten Jahren nicht leicht haben. Wobei es gar nicht einmal ideologisch totalitäre Feinde sind, die sie bedrohen, sondern vielmehr Entwicklungen aus dem Inneren demokratischer Marktgesellschaften selbst. Vom Grundgedanken des Parlamentarismus, wie der Widerstreit großer Ideen, ist jedenfalls nicht mehr viel übrig geblieben. Mit skeptischem Blick weist Franz Walter auf die zahlreichen Schattenseiten der heute so gerne propagierten Partizipations- und Chancengesellschaft hin. Die drohende Gefahr dabei: demokratischer Substanzverlust und kollektive Orientierungslosigkeit.
Hannah Arendt prognostizierte einst das Absterben des politischen Raumes, die schleichende Transformation der Politik in eine technokratische Verwaltungsmaschinerie. Sie hatte Angst vor einer Welt, in der alles politisiert, aber nichts mehr politisch ist. Und heute? Wie lassen sich die Defizite der modernen Demokratie und ihrer politischen Repräsentationsweisen mit Arendt deuten? Danny Michelsen geht diesen und anderen Fragen nach dem „Unpolitischen“ auf den Grund. Seine Bestandsaufnahme gibt Grund zur Besorgnis.
Was ist unter simulativer Demokratie zu verstehen und was unterscheidet diese von der Postdemokratie? Was ist unter der Emanzipation zweiter Ordnung zu verstehen und was folgt aus dieser? Und: Leben wir in postökologischen Zeiten? Diese und andere Fragen klärt und beantwortet der Soziologe und Autor des Buches „Simulative Demokratie“, Ingolfur Blühdorn, im Interview mit David Bebnowski.
Die Frage, ob der Nahe Osten in absehbarer Zeit durch Polarisierung und gewaltförmige Spaltung der Gesellschaft geprägt sein wird, oder ob sich das Versprechen von Demokratisierung realisieren lässt, ist offen, so Bassam Tibi, der in seinem Text über Demokratie und Islamismus im Arabischen Frühling die Chancen, aber auch die Risiken und Brüche der Demokratisierungsversuche im Nachgang des Arabischen Frühlings skizziert.