Editorial
Der Wahlabend - ein Rausch der Zahlen, Analysen und Deutungen. Meinungen, Aussagen und O-Töne treffen auf Hochrechnungen, Prozentpunkte und Sitzverteilungen. Jedes Wort erhält Bedeutung und ist dennoch machtlos gegenüber der Kraft der Zahlen. Dabei ist der Vorgang an sich reichlich simpel: Es werden Kreuze auf Zetteln ausgezählt. Doch die begleitende Kommentierung ist von höchster Bedeutung: Es geht um die Macht im Land. Die Faszination des Abends speist sich auch aus den Gegensätzen: Auf der einen Seite berauschte Akteure und begeisterte Beobachter; auf der anderen Seite die Kühle von Addition und Prozentrechnung.
Nun wird in dieser INDES keine Vor- oder Nachwahlbetrachtung betrieben, es finden sich auch keine Wählerwanderungsanalysen oder parteiprogrammatischen Auswertungen. Das alles hat seinen Platz in der aktuellen Tages- und Wochenpresse, wird sich natürlich auch, mit einigem zeitlichen Abstand, in Fachzeitschriften niederschlagen. Gänzlich ignoriert wird das Wahlereignis natürlich nicht – nur mit einem Weitwinkel betrachtet: Die Beiträge in den »Perspektiven« untersuchen allesamt die Lage der Demokratie. Franz Walter, Danny Michelsen und Ingolfur Blühdorn entwickeln darin zumeist skeptische Perspektiven und mithin eine angesichts rauschender Wahlabende kritische Bestandsaufnahme.
Doch nicht nur in Wahlnächten, auch in der Politik im Allgemeinen, in der Freundschaft, beim Essen oder in der Musik, ob im Krieg, im Glauben oder bei der Arbeit und in der Freizeit – rauschhafte Erlebnisse haben schon immer Personen geprägt und Gesellschaften mitgeformt. Im Kleinen wie im Großen: Sie können der Treibstoff einzigartiger Leistungen sein, jedoch auch in wahnhafte Übersteigerungen führen. Die Rationalität, das vernünftige Handeln erscheint dagegen als weit weniger risikobehaftet. Allerdings, natürlich, meist auch kühler, berechnender, öder. Im Schwerpunkt widmet sich INDES diesem (vermeintlichen) Gegensatzpaar: Rausch & Rationalität.
In diesem Heft fragen wir: Wie viel Rausch tut gut? Und umgekehrt: Wie viel Vernunft ist »richtig«? Gibt es gar so etwas wie den berechneten Rausch und die rauschhafte Ratio? Welche »Rationalität« ist überhaupt gemeint? Wann ist z. B. vermeintlich unvernünftiges Verhalten doch rational (weil man einen bestimmten Zweck verfolgt), inwiefern kann man auch scheinbar irrationales Handeln mindestens wertrational rechtfertigen? Mit der »Vernunft« ist es immer heikel – was ist schon »vernünftig«? Kann nicht auch der Überschwang »vernünftig« sein, wenn er z. B. den positiven Effekt des Spannungsabbaus hat? Dieser Gedankengang lässt sich immer weiterspinnen. Oder ist der »Rausch« per se zweckungebunden? Wer sich diesen Fragen stellt, dem wird – wie so oft bei komplexen Beschäftigungen – rasch klar: Einfache Antworten gibt es nicht. Die Auseinandersetzungen sind stets ambivalent. Ein Sowohl-als-auch durchzieht die Beiträge der vorliegenden INDES – macht sie aus diesem Grund interessant.
Robert Feustel weist einleitend darauf hin, Rausch und Rationalität nicht an unterschiedlichen Ufern zu suchen. Eine Erkenntnis, die sich auf das Feld der »praktischen Politik« übertragen lässt. So erläutern Robert Lorenz und Matthias Micus in ihrem Beitrag über ehemalige und derzeitige Politiker-Kohorten, wie aus Pathos Sachlichkeit wurde. Vincenz Leuschner fragt, ob Vertrauen und Freundschaft in der Politik vernünftig seien. Lars Geiges zeigt, dass Essen und Trinken – Verzicht und Völlerei – gleichermaßen Kraftquellen der Mächtigen darstellen können. Und Teresa Nentwig führt am Beispiel der Plagiatsaffäre zu Guttenbergs aus, dass dem politischen Skandal Ratio und Rausch zugleich innewohnen. Darüber hinaus schreibt Torben Lütjen über die Konjunkturen politischer Rationalität und untersucht den Technokratie- Begriff historisch. Er schreibt: »Mag sein, dass die Sprache der Politiker steril und blutarm geworden ist; doch Technokraten macht das noch nicht aus ihnen. Wenn Technokratie bedeutet, an eine höhere Rationalität zu glauben und dass die Wissenschaft ein Wissen bereitzustellen vermag, mit dem sich gesellschaftliche Konflikte wie von selbst auflösen – dann hat dieses Denken schon seit langer Zeit keinen herausgehobenen Platz mehr im politischen Mainstream.«
Welchen Reiz der Rausch auf Schriftsteller ausgeübt hat, dem geht Jörg Magenau in seinem Beitrag über die Arbeiten und Drogenexperimente Ernst Jüngers nach. Der Autor kommt zu dem Schluss: »Den Rausch zu leben, hieß für Jünger, ihn zu kontrollieren und in ein Forschungsgebiet zu verwandeln. Deshalb findet er nur in seinen Büchern statt. Im Text. Und in den Köpfen der Leser.« Den gelebten und erlebten Rausch, die Strahlkraft, die vom intellektuellen Mentor, vom »Meister« ausging, der die Apokalypse beschwor und die radikale Umkehr predigte, erkundet Franz Walter und zeichnet den gesellschaftlichen Abschied vom Phänomens des Gurus nach. »Zwar flackern spirituelle Bedürfnisse immer mal wieder auf«, resümiert Walter, vor allem jedoch »in einem sehr individualisierten Sinne als jederzeit austauschbare Angebote in den Regalen für Lebenshilfeprodukte.«
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2013 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2013