Abschied von den Gurus? Wo niemand mehr Jünger sein will, da werden auch Meister rar
Mysterium, Erleuchtung, Wunder, Licht, Klarheit, Befreiung, Heilung, Erlösung. Das alles sind Begriffe, die stets zu fallen pflegen, wenn Menschen bei ihrer Suche nach dem großen Sinn, nach tiefer innerer Ruhe, nach einem neuen Jerusalem auf einen großen Meister stoßen. Niemand vergisst diese erste Begegnung, auch wenn er sich vom Guru irgendwann enttäuscht abgewandt haben mag oder einfach nur seinen eigenen Weg ohne das Patronat des charismatischen Führers gefunden haben sollte. Jünger und Meister, dieses Verhältnis ist um mehrere Volt stärker aufgeladen als das zwischen Schülern und Lehrern, zwischen Freunden, Genossen, Kameraden untereinander.[1]
Der Meister ist der Heiland, zumindest der berufene Prophet, aus dem Gott spricht und der zu Gott führt. Er verkörpert das Einzigartige, strahlt eine besondere Weisheit aus. Er hat tiefer gesehen als alle anderen. Er nimmt seine Sendung an, offenbart, verkündet – und braucht dazu Jünger, die die Botschaft aufnehmen, die dem Weg, den der Meister weist, folgen. Der Meister vermittelt nicht einfach Wissen, lehrt nicht pure Fakten; er greift in das Innere seiner Epigonen, die doch Auserwählte zu sein meinen. Der religiöse, spirituelle und ideologische Führer fordert von seinen Anhängern alles, verlangt ihre gesamte Existenz, was Privatheit, gegenläufige Aktivitäten, eigenen Raum nicht mehr gestattet. Denn dem Meister geht es nicht um Kompetenz oder Meinungsherrschaft in einem »Teilsystem«, sein Anspruch ist universell, sein Ansatz ist, wie man lange sagte, »ganzheitlich«.
Ein solcher Gestus zieht diejenigen an, die nicht lediglich folgenlos parlieren, sondern, coûte que coûte, handeln wollen, die den kompletten Neuanfang suchen, in ihrem quälenden Leid den Ausweg nur in einer Fundamen- talveränderung, ja: Reinigung ihrer selbst zu finden glauben. Haben wir es hier mit schwachen, innerlich unsicheren Menschen zu tun, wie gewöhnlich unterstellt wird? Oder handelt es sich am Ende nicht vielmehr um starke und entschlossene Personen, welche gleichsam im nietzscheanischen Sinne der Banalität und Trivialität einer bürokratisch geordneten, sozialstaatlich gesicherten, aber aller höheren Aufgaben und Zielsetzungen baren Gesellschaft entkommen wollen? Die dann, da sie die großen Alternativen nicht aus sich selbst begründen können, wie elektrisiert reagieren, alles aufgeben, sich fortan dem großen Weisen hingeben, der erkennt, was sie zu schauen nicht vermögen, der Gebote lehrt, die strikt zu befolgen sind, der sie auf den langen, mühseligen Marsch durch die Wüste mitnimmt, um anzukommen im Heiligen Land. Und um all das baut ein sich überlieferndes Mysterium auf, Kulthandlungen, Symbole und Rituale als Exklusivgut für die Eingeweihten. Darin liegt gewiss mehr Rausch als Rationalität; und die Zeit des spirituellen oder gar politisch-weltanschaulichen Rausches scheint vorbei, ist zumindest im Deutschland der letzten Jahre einer kühlen Reserviertheit, mehr wohl: der puren Gleichgültigkeit gewichen. Der redende, predigende, wandernde, reisende Meister, der zwischen den späten 1890er und frühen 1930er Jahren ein keineswegs seltener, durchaus auf neugierige Resonanz stoßender Typus war, gilt heute weithin als demagogischer Rattenfänger, dem mit Argwohn und Distanz zu begegnen ist. Zuweilen wird, kommt die Rede auf die Kultur der Gurus, an die bizarre Sekte der Volkstempler des Jim Jones erinnert, die auf Befehl ihres Anführers im Urwald von Guyana 1978 einen grässlichen Massensuizid beging.[2] Und nicht wohlgefälliger sind die Erinnerungen an die politischen Großführer des 20. Jahrhunderts, an die Lenins, Mussolinis und Hitlers, auch an die Mao Tse Tungs. Selbst solche Meistergestalten, denen ethnische oder politisch begründete Massenvernichtung nicht vorgeworfen werden kann, die eher in kleinen Konventikeln den elitären Status eines intellektuellen Mandarins, einer Avantgarde der Poesie, der bildenden Kunst, der Erziehungs- und Lebensgemeinschaft, auch der politischen Theorie zu konstituieren versuchten, auch diese Propheten einer sich und alles andere ebenfalls erneuernden Elite, stehen im Rückblick unter dem Generalverdacht undemokratischen Gruppenhandelns und manipulativer Verführung, heißen sie nun Stefan George, Leonard Nelson, Gustav Wyneken oder Rudolf Steiner. Die Existenz einer »Krise« wird in der Regel zur Deutung des Meister-Jünger-Phänomens herangezogen.[3] Nun ist irgendwie immer irgendwo in der Gesellschaft Krise, jedenfalls hier wie dort und überhaupt. Und so wird man mit leichter Hand mannigfaltige Krisenfaktoren finden, die rasch in einen kausalen Nexus mit dem Aufkommen der Bünde, Kreise oder Orden von großen Meistern und folgsamen Schülern zu bringen sind. Bedeutsamer scheint hingegen der Zusammenhang von massenhafter Juvenilität und prätentiöser, auch radikalisierter Sinnsuche. Gestoßen wird man auf das Phänomen schließlich ganz besonders im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, dann wieder während der 1960er, vor allem der 1970er Jahre. In diesen Jahrzehnten waren die Gesellschaft, die Alltagskultur, auch das Bild der Straßen von den drängenden Zukunftsansprüchen der jungen Kohorten dominiert.
Ein weiteres Phänomen kam hinzu: Der Liberalismus bot den sich ihrer selbst nicht sicheren Jugendmassen keinen Anker der befriedigenden Orientierung. Er zog aufgrund seiner ideellen Defizite sogar die Aggression, die Verachtung auf sich. Dem Liberalismus genügten das Verfassungswerk, der Rechtsstaat, die Gewaltenteilung, die Garantie und der Schutz von Eigentum und freien Märkten. Alles andere war ihm Sache der Bürger, des Einzelnen selbst. Im offenen Diskurs hatte sich zu entscheiden, was die Individuen für gut und richtig hielten. Liberale kannten selbst keine letzten Ziele, mochten keine holistischen Entwürfe für wertfixierte Lebensformen, lehnten Pläne für ein Utopia strikt ab. Daher ging es dem Liberalismus stets schlecht, wenn es in der Gesellschaft gärte, die kollektiven Suchbewegungen ihre Märsche antraten, die Sehnsucht nach dem Kanaan begann. Gerade in der jungen Generation, die zu den berühmten neuen Ufern aufbrechen wollte, die aber nicht wusste, wo sie lagen, daher nach Pfadfindern neuer Façon heischte, gerade in dieser Altersgruppe stieß der Liberalismus auf offene Ablehnung. In solchen historischen Momenten wird dem Relativismus, der Unbestimmtheit, der Entscheidungsschwäche, der Indifferenz, ja der Toleranz, dieser »immer wieder übelmachende(n) Wirkung des Lauen«[4] der ideologische Krieg erklärt. Politiker und Kommentatoren von Maß und Mitte finden kein Gehör. Es sind andere Figuren, die sich des Zulaufs und Zuspruchs erfreuen. So war es um 1900, so setzte es sich bis 1930 fort; und so erlebten wir ein erstaunliches Revival in der Folge von 1968.
Immer geht es in solchen historischen Situationen unruhigen Teilgruppen um das Ganze. Die Negation ist total. Und die ersehnte Transformation hat ebenfalls das Hier und Jetzt komplett hinter sich zu lassen, grundlegend zu überwinden. Es geht um Transzendenz, nicht um immanente Besserungen. Da aber die Älteren in einer Gesellschaft schon zu sehr verquickt sind mit dem Überkommenen, korrumpiert durch die überholten Strukturen, zumindest träge geworden oder resigniert, kann die ganzheitliche Erneuerung nur von den Jüngeren ausgehen, deren Elan noch nicht gebrochen, deren Geistesart noch nicht vernebelt ist.
In der Regel also suchten sich die Meister des 20. Jahrhunderts, ob nun in politischen, künstlerischen oder spirituellen Kleingruppen unterwegs, junge Menschen im Alter von 15 bis 30 Jahren aus, kaum einer war anfangs älter. Nie sollten es zu viele sein, denen das Manna der Auserwähltheit zufiel, denn das hätte der Substanz geschadet, Anliegen und Qualität verwässert. Nur eine Auslese konnte begreifen, was ein großer Meister ihr beizubringen versuchte. Nur eine Elite hatte das Zeug, im Kairos der historischen Möglichkeiten gegen alle Widerstände die einzigartige Mission zu erfüllen, oft erbittert von den Gegnern attackiert, stigmatisiert, verfolgt, vom Tode bedroht. Das war der große Traum von Meistern und Jüngern gleichermaßen: dass ihre erlesene und verschworene Gemeinschaft zum richtigen Zeitpunkt vorbereitet zur Stelle ist, vorne steht, auch anfänglich Ungläubige und Indifferente durch das Feuer der inneren Überzeugung und die Flamme des großen Ziels mitzureißen vermag, wenn die finale Schlacht gegen das Böse oder Schlechte endlich ausgefochten wird.
Ohne Jünger kein Meister. Der große Weise und Künder des Neuen wird zum Meister erst dann, wenn er Anhänger findet, die seinen Ruf »Glaubet und folget mir!« erhören. Bis dahin haben es Meister, so erzählen es uns die Narrative und Mythen der Meisterschilderungen, über die Maßen schwer. Leid, Qual und die schiere Isolation beherrschen den Alltag der künftigen Meister in den Jahren, die sie mit dem Erkennen, dem visionären Sehen ver- bringen.[5] Das alles geschieht in einsamen Höhen, weit weg von den Strömen des Gewöhnlichen, der Nichtigkeiten von Zerstreuung und Geselligkeiten.
Weniger schummrig formuliert und auf die reale Lebensgeschichten etlicher Meister bezogen: Die meisten von ihnen hatten keine leichte Kindheit, waren geplagt von Krankheiten, litten oft an Schlaflosigkeit und verbrachten zuweilen über Monate in Spitälern, waren also in trauriger Verlassenheit groß geworden und galten den Gleichaltrigen ihrer Umgebung als zu meidende oder zu verspottende Sonderlinge.
Solche Erfahrungen können zu außergewöhnlichen Leistungen antreiben, zum unbändigen Willen, mehr zu wissen, höheren Aufgaben zuzustreben als der mediokre Durchschnitt, welcher die Zeit mit belanglosen Spielereien totschlägt. Oft gelang auch die zunächst durchaus angestrebte bildungsbürgerliche Karriere nicht, da die Exzentrik der eigenen Elaborate und die apodiktische Rechthaberei der notgedrungenen Individualisten sich den konventionellen Protektionen an den Universitäten verweigerten. Die, deren Laufbahn nach Plan verlief, sprachen dann von gescheiterten Existenzen, was indes die Sendungsenergie derjenigen, die sich ein weiteres Mal an den Rand gedrängt fühlten, nur noch zusätzlich auflud.
Ein fester Ort, eine fixe Lebensstation, ja eine lebenslange Heimat steht dann meist nicht zur Verfügung. So gehen die Meisteranwärter auf Wanderschaft, müssen es auch, um Anhänger um sich zu scharen, die ihnen erst die erstrebte Bedeutung verschaffen. In der einen Woche wohnen sie hier, in der nächsten dort, in oft denkbar bescheidenen Kämmerchen ihrer Freunde undJünger. Zwei Drittel des Jahres war etwa Rudolf Steiner, so seine Biografin, im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts unterwegs, um insgesamt 1.300 Veranstaltungen vor Publikum durchzuführen.[6] Auch der Meister der Reformpädagogik, Gustav Wyneken, hielt ohne einen festen Wohnsitz im Jahrzehnt später »rastlos zahlreiche Vorträge« und rochierte zwischen München, Frankfurt, dem Thüringer Wald und Berlin.[7] Und über den Dichtermeister Stefan George schreibt Ulrich Raulff: »Wie die Wanderkaiser und Reisekönige des Mittelalters, wie ein Bewohner der Steppe ist der Dichter ständig unterwegs. All seine Aufenthalte sind vorübergehend, hier ein paar Tage, dort ein paar Monate, dann geht es weiter.«[8]
Die Mittel für ihr Leben bezogen sie vielfach aus Erbschaften, auch aus den Zuwendungen ihrer Bewunderer. Meister waren nur selten – wenngleich, siehe Stefan George, natürlich auch das vorkam – große Schriftsteller. Ihre Faszinationskraft entsprang vielmehr der Rede, dem mündlichen Vortrag, ihrer Gabe, durch Gleichnisse und Bilder die Zuhörer zu bezaubern und zu fesseln, wie Rudolf Steiner, oder ihr junges, akademisch ambitioniertes Pu- blikum durch eine strenge, fast kalte Rationalität der Gedankenführung zu beeindrucken, wie Leonard Nelson.[9] Meister wie Leonard Nelson, der Göttinger Philosoph und Leiter einer kleinen, aber ganz ungewöhnlich wirksa- men sozialistischen Sekte, oder Rudolf Steiner, wirkten nach ihrem Tod durch die mitstenographierten, auf diese Weise in Büchern verschriftlichten Reden. Aber die suggestive Kraft lag in den Momenten der unmittelbaren Mitteilung selbst. Die Zeitzeugenbekundungen sind zahlreich, die von der hinreißenden Wirkung des Anthroposophen Steiner bei seinen öffentlichen Auftritten Zeugnis ablegen. Freilich, über die Qualität von Rhetorik haben unterschiedliche Adressaten abweichende Auffassungen. Kurt Tucholsky etwa, der Steiner, den »Jesus Christus des kleinen Mannes«, in Paris erlebte, war entsetzt und berichtete mit galligem Spott:
»Im Ganzen sieht Steiner aus wie ein aus den Werken Wilhelm Busch entlaufener Jesuit: Bauernschädel, gefalteter Komödiantenmund, Augen, die sich beim Sprechen nervös schließen und nur manchmal – in ff. Dämonie – die Zuschauer ansehen. Man hatte mir gesagt, dass ganze Nationen diesem Zauber unterliegen. […] Wenn’s mulmig wurde, rettete sich Steiner in diese unendliche Kopula, über die schon Schoppenhauer so wettern konnte: das Fühlen, das Denken, das Wollen – das ›Seelisch-Geistige‹, das Sein. Je größer der Begriff, desto kleiner bekanntlich sein Inhalt – und er hantierte mit riesen Begriffen. […] Ein Kerl etwas wie ein armer Schauspieler, der Sommerabends zu Warnemünde, wenn’s regnet eine ›Réunion‹ gibt, alles aus zweiter Hand, ärmlich, schlecht stilisiert – und das hat Anhänger! Wie groß muss die Sehnsucht in den Massen sein, die verloren gegangene Religion zu ersetzen! Welche Zeit!«[10]
Wer von Rudolf Steiner Heil, Gesundheit, Erlösung erwartete, nahm dessen Reden natürlich ganz anders wahr. Er glaubte dem Meister, bewunderte, ja liebte ihn. Und wenn der Meister ihn in seiner Umgebung zuließ, dann war das der erhebende Moment schlechthin. Dann war man auserwählt, auserkoren, in die Exklusivität der Eingeweihten hineingenommen. Doch hing das so gesteigerte Selbstwertgefühl einzig und allein von der Gunst des Meisters ab. Ihm saßen die Jünger zu Füßen, zu ihm schauten sie hinauf. Es war eine eindeutige Machtbeziehung.[11]
Nur der Meister legte fest, wie die Doktrin des Kreises begründet und auszulegen war, welche Regeln galten, wer zum inneren Zirkel gehörte, wer sich Chancen auf Zugang zum Thron einräumen durfte, wer Ausschluss und Verbannung fürchten musste. Die Strukturen in dieser Gemeinschaftsform, oft als Orden bezeichnet, mit klösterlichen und jesuitischen Metaphern charakterisiert, waren unzweifelhaft autoritär, ja diktatorisch. Der Zugriff des Meisters auf Alltag, Sinnesart und Biografie seiner Jünger war total, gerade weil es sich um eine Kleingruppe, nicht um eine sonst notwendigerweise doch fragmentierte und ausdifferenzierte Großgesellschaft handelte. In den kleinen Gemeinden ließ sich realisieren, was in modernen Staaten nur schwer vollständig umzusetzen war. Der Meister verlangte Treue durch Gelübde, führte fixe Rituale und Regeln ein, deren Befolgung er mit strengem Blick überprüfte und mit scharfen Sanktionen im Falle von Nachlässigkeit ahndete.[12]
Leonard Nelson etwa achtete in seiner sozialistischen Sekte, dem Internationalen Jugendbund, darauf, dass jeder hier zu jeder Zeit laut und deutlich sprach und über jede Sitzung, jedes Treffen ein Protokoll anfertigte, in dem Sprachverhunzungen – was dazu gehörte, legte nur der »Meister« fest – nicht vorkommen durften. Man musste Vegetarier sein, durfte auch nicht rauchen. Unpünktlichkeit wurde bestraft, ebenso Schweigsamkeit bei den Mahlzeiten. Wer Schwächen zeigte, den traf unerbittlich die Verachtung des Meisters. Gegner überzog Nelson mit apodiktischer, vernichtender Kritik und erbarmungslosem Spott. Von Kompromissen wollte er nichts wissen.[13] Gustav Wyneken, der Reformpädagoge, trug ganz ähnliche Züge, auch Stefan George und Rudolf Steiner.
Das Gros der Meister schätzte und gebrauchte die Methode der sokratischen Diskussion,[14] dieses »erotisch aufgeladene Spiel von Frage und Antwort, mit dem Sokrates in den Platonischen Dialogen die Jeunesse dorée von Athen in Verwirrung stürzte«.[15] Durchweg verlangten die Meister »Hingabe« von ihren Schülern. Immer war vom besonderen »pädagogischen Eros« die Rede, der zwischen ihnen, die mehrheitlich das Zölibat von ihren Epigonen forderten, und den Jüngern herrschte.[16] Beispiele für den praktizierten Eros von Meistern zu oft noch sehr jungen Aposteln sind bekannt.[17] »Die gefährliche Verbindung von Jugendbewegung und sexueller Befreiung, die die Väter im Zeichen George und Platon erprobt hatten, setzten die Söhne im Zeichen von Freud und Coca-Cola fort. Die Resultate waren die gleichen, in Wickersdorf wie im Odenwald, und sie waren desaströs.«[18]
In solchen sozialen Gemeinschaften wuchsen nicht nur, wohl nicht einmal primär die Solidarität und das Vertrauen untereinander, sondern sie näherten Eifersucht, Neid und erbarmungslose, wenn auch in der Regel versteckt betriebene Konkurrenzkämpfe.[19] Denn schließlich dürstete jeder Einzelne nach der besonderen Gunst des Meisters, nach der bevorzugten Liebe. Und alle fürchteten die Zurückweisung.[20] Wer würde am Ende der Johannes, wer der Judas sein? Diese ständig virulente Frage schürte Rivalitäten und speiste boshafte Intrigen. Am Ende konnte tiefe Enttäuschung stehen, die im Verrat am Meister ein bitteres Ende fand. Der Vatermord ist wohl das Äquivalent zu der tiefen Intimität der Liebesbeziehungen von Jüngern und Meistern in Kleingruppen. Oft erlosch auch einfach der charismatische Zauber des Meisters durch Gewöhnung und Gewöhnlichkeit. Begabte Jüngere wuchsen über einen solchen erschlafften Charismatiker hinaus, begründeten ihre eigene Aura und Anhängerschaft. Noch schlimmer traf es derartige Gemeinschaften, wenn die Mehrheitsgesellschaft sich einige ihrer Überzeugungen und Handlungsweisen aneignete. Derlei Teil-Integrationen bedeuteten stets das Aus für die auf ihre Sonderheit zuvor so stolzen Konventikel.
Gewiss überwiegt seit Jahren die Kritik an den pathologischen, unzweifelhaft gefährlichen Zügen von Meister-Jünger-Gesellschaftsformen. Und fraglos sind Beispiele und Belege dafür nicht gering, wie herrschsüchtige Gurus ihre Anhänger seelisch gebrochen, gar zum Instrument oft schnöder kommerzieller Interessen gemacht haben. Andererseits hat man zuletzt weder publizistisch noch wissenschaftlich allzu sehr auf positive Möglichkeiten und Folgen von Meister-Jünger-Beziehungen auch nur geschaut. Die Kategorien für die Analyse von Wahrnehmungsdefiziten und Binnenzentriertheit, von autodestruktiven Kräften und Deformationen solcher autoritär-hierarchisch geführten Gruppen sind im Methodenkasten der Sozialwissenschaft üppiger präsent als jene Begriffe, welche den Blick auf Vorzüge einer solchen Assoziationsform zu schärfen vermögen. Die Energien, die in diesen Zirkeln freigesetzt wurden, die Werteverbindlichkeit, die Überzeugung von einer spezifischen Mission, dann der Ethos, Botschaft und Handlungsweise zusammenzubringen und für den eigenen Alltag zur Regel zu machen, haben gerade in besonderen historischen Situationen auch ungewöhnliche Leistungen hervorgebracht.
Die Zugehörigen zum Internationalen Jugendbund des Göttinger Philosophen Leonard Nelson – mehr als 300 Mitglieder besaß der Bund nie – gehörten vor 1933 zu den entschiedensten Mahnern vor der nationalsozialis- tischen Barbarei. 1933 gingen ihre Kader sofort in den aktiven Widerstand, mutig, entschlossen, wenn auch ohne Erfolg.[21] Die große, wirksame Zeit der Nelson-Jünger begann indes erst nach 1945, als sie der wiederbegründeten Sozialdemokratie beitraten, Bürgermeister, Stadtdirektoren, Parlamentarier stellten und stärker als jede andere Kraft in der Partei eine programmatische Revision betrieben, die am Ende zum Godesberger Programm 1959 führte. Die Nelsonianer revidierten sich dabei auch selbst, indem sie ihre frühe aggressive Kirchengegnerschaft ablegten, obendrein die geheimnisumwobene Ordenstätigkeit nicht mehr zelebrierten. Und sie verhalfen der Sozialdemo- kratischen Partei zur Entledigung der Fesseln eines starren, simplifizierenden und engen Marxismus.
Im Grunde bedeuteten die Erfolge der Nelsonianer das Optimum für einen politischen Kaderzirkel im Bemühen um die Veränderung von Großorganisationen. Vermutlich gelang ihnen das allerdings nur deshalb, weil der Meister längst schon nicht mehr mit von der Partie war – er starb 1927 – und daher mit seiner Person und Autorität nicht mehr herrisch, pedantisch und doktrinär auf die Unantastbarkeit seiner ureigenen Prinzipien zu beharren ver- mochte. Nach den Nelsonianern existierte keine Gruppe mehr in der SPD, die vergleichsweise ernsthaft und kohärent Wertediskussionen geführt hätte. Nach dem biologisch verursachten Schwund der Nelsonianer in der Nachkriegs-SPD entleerte sich das programmatische Depot der Sozialdemokratie in Deutschland rapide und gravierend.[22]
Rudolf Steiners Esoterik und sein pädagogischer Allmachtsanspruch innerhalb seines Systems wirkten – siehe Tucholsky – schon auf kritische Zeitgenossen, wirkten erst Recht aus retrospektiver Sicht, nach den bösen Erfahrungen mit den dunklen Schatten absolutistischer Ideologien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, befremdlich und gefährlich.[23] Da die anthroposophische Ideologie und sämtliche vor Jahrzehnten oft rein intuitiv geäußerten Sentenzen Steiners für die Waldorfpädagogik noch heute als verbindlich gelten, werden Bedenklichkeiten gegen diesen alternativen Schul- und Erziehungszweig mit seinen Dogmen, starren Sichtweisen auf die Natur des Menschen und des Lebens nicht ohne Recht in die bildungspolitische Diskussion geworfen. Auf der anderen Seite scheinen neuere und gründliche wissenschaftliche Analysen von Bildungsforschern doch allerlei Vorzüge der Waldorfschulen zu belegen, da hier offenkundig Lernmotivation und Sozialverhalten, auch die Konzentrationsfähigkeit der Eleven in einem Klima höherer Kreativitätsmöglichkeiten über dem Durchschnittslevel staatlicher Schulen liegen.[24] Die Waldorfschüler – insgesamt circa 85.000 sind es derzeit in Deutschland – identifizieren sich stärker mit ihrer Lerneinrichtung, leiden weniger an somatischen Beschwerden, fühlen sich besser gefördert und klagen in geringerem Umfang als Gleichaltrige des öffentlichen Bildungssektors über Langeweile im Unterricht. Eine kohärente Idee von Schule, Bildung und Erziehung kann doktrinären Ursprungs sein und zum seelischen Missbrauch und zur Gehirnwäsche von Schutzbefohlenen führen. Sie kann aber auch Kreativitäten entfalten, Interessen stärken, zur Lernfreude beitragen – stärker als eine Pädagogik ohne jeden Ethos, ohne Traditionswissen und ideellen Kern. Der Literaturwissenschaftler und Philosoph Georg Steiner, selbst jüdischer Herkunft, hat in seiner brillanten Schrift »Der Meister und seine Schüler« deutlich gemacht, dass das Judentum ohne die eher inhärente Meisterschaft kontinuierlicher Vermittlung von Traditionsbeständen und Wissen nicht über- lebt hätte. »Die Lehrsituation wohnt dem jüdischen Monotheismus inne.« Mythologien, Geschichten, Episoden bilden jüdisches Heimatland. Die Einübung, Pflege, Examinierung und fortwährende Weitergabe der eigenen Ge- schichte und des religiösen Kanons bilden den roten Faden des bedrängten, verfolgten Volkes. Der jüdische Rabbi gilt als Künstler der in Gleichnissen gehaltenen Narrative. Sein Lob auf die »Muskeln des Gedächtnisses« durch Lehren der Meister und Verkündungsarbeiten der Jünger bringt Georg Steiner zu einer interessanten Kritik des Defizits an Gedächtnistraining in der gegenwärtigen Moderne:
»Weder Zensor noch Staatspolizei können das erinnerte Gedicht aus dem Gedächtnis reißen (man denke daran, wie Mandelstams Gedichte dort, wo keine geschriebene Fassung denkbar war, bewahrt wurden, indem sie von Mund zu Mund gingen). In den Todeslagern waren bestimmte Rabbiner und Talmudgelehrte als ›lebende Bücher‹ bekannt, deren Seiten von absoluter Erinnerung die anderen Häftlinge ›durchblättern‹ konnten, wenn sie Urteil oder Trost suchten. Große epische Literatur und die Gründungsmythen beginnen zu verfallen, wenn man zum Schreiben ›fortschreitet‹. Unter all diesen Gesichtspunkten ist die Austreibung des Gedächtnisses in der heutigen Schulbildung eine schreckliche Dummheit. Das Bewusstsein wirft seinen lebensnotwendigen Ballast über Bord.«[25]
Insgesamt scheint es gesellschaftlich vorbei zu sein mit den großen »Meistern«. Wer würde sich – was vor hundert Jahren keine Rarität war – zur Anhänglichkeit an einen bewunderten »Meister« bekennen? Seit den späten 1960er Jahren hat ganz allgemein der Exodus aus den normativ verbindlichen kollektiven Groß- und Kleingemeinschaften stattgefunden, haben Autonomie, Individualität, Eigensinn als Bürger- und sicher auch Konsumententugenden die früheren Pflichtgebote der Ein- und Unterordnung, des Gehorsams, der Opferbereitschaft oder der Ehrfurcht vor dem Höheren abgelöst. Zwar flackern spirituelle Bedürfnisse immer mal wieder auf, aber auch hier in einem sehr individualisierten Sinne als jederzeit austauschbare Angebote in den Regalen für Lebenshilfeprodukte, mit denen man sich erhofft, besser mit Stress umgehen zu können, ein ganz persönliches Optimum an Ruhe in der Hektik zu finden, sich insgesamt gesund und gut zu fühlen, einfach super drauf zu sein. Tief gehen die temporären religiösen Wallungen und Neigungen jedenfalls zumeist nicht. Meister, die wie einst die Apokalypse beschwören und radikale Umkehr predigen, haben es auf den neuen Religionsmärkten fraglos schwer.[26] Schließlich ist auch in der Politik der Bedarf an Charismatikern im Weber’schen Sinne weit zurückgegangen. Allein in der Ökonomie konnte man in den letzten Jahren bemerkenswerterweise ein vitales Interesse an charismatischer Wirtschaftsführung erkennen, was sich in der Themensetzung von Managerseminaren – wo auch wieder so genannte »Gurus« wie M.S. Rao oder Tom Peters agieren – deutlich niederschlug. Heute seien die Unternehmer overmanaged, aber underled, heißt es zur Begründung.[27] Während früher die politische Linke bevorzugt von »Visionen« schwärmte, ist dies nun zu einem gern verwendeten Zielbegriff der ökonomischen Eliten geworden. Nur mit erreichbaren Visionen könne man, so der Duktus, die Leistungsbereitschaft des Personals anspornen und Kreativitätspotenziale ausschöpfen.[28] Aber auch bei den neuen Visionären – bei den Mark Zuckerbergs, Jeff Bezos, Steve Jobs, Marissa Mayers, Eric Schmidts, Larry Pages – liegen innovationssteigernde Faszinationskraft und vereinnahmungssüchtige Allmachthybris beunruhigend nahe beieinander.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Almut-Barbara Renger, Der »Meister«: Begriff, Akteur, Narrativ. Grenzgänge zwischen Religion, Kunst und Wissenschaft, in: Dies. (Hg.), Meister und Schüler in Geschichte und Gegenwart. Von Religionen der Antike bis zur modernen Esoterik, Göttingen 2012, S. 19–49.
[2] Reinhard Hummel, Gurus, Meister, Scharlatane. Zwischen Faszination und Gefahr, Freiburg i. B. 1996, S. 11.
[3] Vgl. Renger, S. 39.
[4] Thea Sternheim, Tagebücher IV, 1951–1971, Göttingen 2011, S. 369.
[5] Vgl. Joachim Wach, Meister und Jünger. Zwei religions- soziologische Betrachtungen, Leipzig 1925, S. 23.
[6] Miriam Gebhardt, Rudolf Steiner. Ein moderner Prophet, München 2011, S. 166.
[7] Peter Dudek, »Versuchs- acker für eine neue Jugend«. Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf 1906–1945, Bad Heilbrunn 2009, S. 41.
[8] Ulrich Raulff, Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nach- leben, München 2012, S. 30.
[9] Vgl. Gebhardt, S. 167; Holger Franke, Leonard Nelson, Ammersbek bei Hamburg 1991, S. 104.
[10] Ignaz Wrobel, Rudolf Steiner in Paris, in: Die Weltbühne, 03.07.1924, S. 26.
[11] Auch Walther Müller-Jentsch, Die Kunst in der Gesellschaft, Wiesbaden 2011, S. 111 u. S. 152.
[12] Auch Hummel, S. 45.
[13] Vgl. Franz Walter, »Republik, das ist nicht viel«. Partei und Jugend in der Krise des Weimarer Sozialismus, Bielefeld 2011, S. 125 ff.
[14] Vgl. Georg Steiner, Der Meister und seine Schüler, München u. a. 2004, S. 40 ff.
[15] Thomas Karlauf, Stefan George. Die Entdeckung des Charismas, München 2008, S. 401.
[16] Hierzu Jürgen Oelkers, Eros und Herrschaft, Weinheim 2011; Magdalena Klinger, Pädagogischer Eros, Berlin 2011.
[17] Siehe etwa: Päderastie aus dem Geist von Stefan George?, Gespräch von Julia Encke mit Thomas Karlauf, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.04.2010.
[18] Raulff, S. II.
[19] Vgl. Wach, S. 14.
[20] Steiner, S. 49.
[21] Der Stefan-George-Biograf Thomas Karlauf reklamierte Gleiches für seinen Meister, da dessen Jünger Claus Schenk Graf von Stauffenberg das fehlgeschlagene Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 verübt hatte, siehe Thomas Karlauf, Stauffenberg. Eine Motivsuche, in: Sinn und Form, Jg. 62 (2012) H. 1, S. 5–17.
[22] Franz Walter u. Stine Marg, von der Emanzipation zur Meritokratie, Göttingen 2013, S. 89 ff.
[23] Gebhardt, S. 291.
[24] Heinz Buddemeier u. Peter Schneider, Waldorfpädagogik und staatliche Schule, Stuttgart 2006; Fanny Jiménez, Namen tanzen, fit in Mathe –Waldorf im Vorteil, in: Die Welt, 26.09.2012
[25] Steiner, S. 43 f.
[26] Hierzu Stefan Rademacher, »Meister« und »Schüler« in der gegenwärtigen Esoterik-Kultur – Chiffren sich verändernder sozialer Konstellationen im alternativreligiösen Feld, in: Renger, S. 425–442, hier S. 428.
[27] Etwa Jörg Felfe, Charisma, transformationale Führung und Commitment, Köln 2005, S. 19.
[28] Siehe Jutta Menzenbach, Visionäre Unternehmensführung, Wiesbaden 2012, S. 43 ff.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2013 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2013