Neonazis im Dienst des Staates Die Verstrickung des Inlandsgeheimdienstes in rechtsextreme Szenen und Parteien sowie das Umfeld des NSU

Von Rolf Gössner

Kriminelle Neonazis unter Staatsschutz

Das Erschreckendste, was ich bei den Recherchen zu meinem Buch »Geheime Informanten« erfahren musste, ist, dass der VS seine kriminell gewordenen V-Leute oft genug deckt, systematisch gegen polizeiliche Ermittlungen ab­schirmt, ja sogar Belastungsbeweise unterdrückt, um sie in der Szene zu halten und weiter langfristig abschöpfen zu können – anstatt sie unverzüg­lich abzuschalten. Das illustrieren etwa Toni Stadler, V-Mann aus Brandenburg, und Mirko Hesse, V-Mann des Bundesamtes für VS, in kaum zu überbietender Deut­lichkeit: Sie hatten die Neonazi-Musikszene fest im Griff und unter den Au­gen des VS mit CDs versorgt, in denen Volksverhetzung betrieben und zum Mord an Juden, Künstlern und Politikern aufgerufen wird (Titel: »Noten des Hasses«). Zu den Opfern der Mordaufrufe gehörten u. a. der ehemalige Vize des Zentralrats der Juden, Michel Friedmann, die Ex-Vorsitzende der Zuwanderungskommission Rita Süssmuth, die Fernsehmoderatoren Alfred Biolek, Hella von Sinnen und Lilo Wanders. Diese CD löste bundesweit hel­les Entsetzen aus.

Trotz Mordaufrufs und öffentlicher Empörung unternahm der VS nichts, um den Vertrieb durch seine V-Leute stoppen zu lassen – obwohl er dazu schon allein zum Schutz der Opfer verpflichtet gewesen wäre. Stattdessen ließ er die Planung einer zweiten Auflage zu. Erst später hat die Berliner Polizei dem Spuk ein Ende bereiten können – ohne Zutun des VS, ja sogar gegen den Widerstand des V-Mann-Führers »Dirk Bartok«: Dieser hatte, wie Abhör­protokolle der Polizei beweisen, seinen Schützling mehrfach mit konkreten Hinweisen vor Polizeimaßnahmen gewarnt. So legte sich Stadler »auf Drän­gen« seines V-Mann-Führers ein konspiratives Lager zu, um im Falle von polizeilichen Durchsuchungen seiner Wohnung und seiner Geschäftsräume abgesichert zu sein. Darin waren illegale Gegenstände wie Poster der Waf­fen-SS, Hitlerbilder mit Hitlergruß und Hakenkreuzen sowie indizierte CDs versteckt – mit Rückendeckung des VS, der ihn wissen ließ, dass sein Lager »absolut sicher« sei; »im Ernstfall« sei man sogar bereit, »beweiserhebliches Material verschwinden (zu) lassen«.

Als die Polizei eine Durchsuchung bei Toni Stadler anberaumte, da tauschte sein V-Mann-Führer »Dirk Bartok« noch rechtzeitig den Tat-Computer sei­nes Schützlings gegen einen sauberen Computer aus. Als wenig später die Durchsuchung tatsächlich stattfand, beschlagnahmten die Polizeibeamten arglos den geliehenen »Amtscomputer«. Stadler bedankte sich daraufhin ar­tig für diese amtliche Beweismittelunterdrückung und konnte fortan seinen eigenen Computer mit volksverhetzenden Texten, den er erfolgreich versteckt hatte, weiter benutzen.

Die »Verfassungsschützer« wollten ihren Top-Informanten Toni Stadler in der Musikszene nicht verlieren, sie dachten langfristig und wollten weiterhin an vorderster Musikfront dabei sein, um Informationen abschöpfen zu kön­nen. Sie berauschten sich an der Exklusivität ihrer Erkenntnisse und wollten keinesfalls teilen – schon gar nicht mit der Polizei, zu der sie traditionell in einem gepflegten Konkurrenzverhältnis stehen. Es sei »absolut befremdlich«, dass Menschen von staatlich bezahlten V-Männern bedroht würden, sagte die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, die von dem »musikalischen« Mordaufruf unmittelbar be­troffen war. Auch Michel Friedman zeigte sich zutiefst bestürzt, dass V-Leute des Staates beim Vertrieb des Mordaufrufs eine führende Rolle gespielt ha­ben: »Dass die Sicherheitsbehörden mittlerweile ein Teil der Bedrohung ge­worden sind, erschüttert und verunsichert mich«.[16]

Zurück zum NSU: Auch der Thüringer VS hat bei den NSU-Ermittlungen polizeiliche Fahndungsmaßnahmen regelrecht torpediert und seinen braunen V-Leuten polizeiliche Observationen, Abhöraktionen und geplante Durchsuchungsaktionen verraten, wie u. a. Tino Brandt als Zeuge im Münchner NSU-Prozess bestätigte. Dieses Verhalten ist Strafvereitelung im Amt und Beihilfe zu Straftaten. Das ist zwar strafbar, doch die VS-Verantwortlichen sind dafür nie zur Rechenschaft gezogen worden, obwohl durch dieses Ver­halten unbeteiligte Personen schwer geschädigt wurden.[17]

Fazit: Fremdkörper in der Demokratie – Was tun?

Angesichts dieses Befunds in Sachen V-Leute-System des VS muss sich die Sicherheitspolitik ernsthaft den zugrundeliegenden Problemen der unkontrollierbaren Geheimstrukturen und -methoden und des vorverlagerten ideo­logischen Staatsschutzes stellen sowie geeignete politisch-legislative Konse­quenzen ziehen. Doch die bisherigen »Reformbemühungen« laufen leider in eine vollkommen andere Richtung. Das Fazit des Desasters in Thesen:

Die fast 70-jährige, antikommunistisch geprägte Geschichte des VS lässt sich auch als Geschichte von Skandalen und Bürgerrechtsverletzungen schreiben: von der Waffenbeschaffung für militante Gruppen, der unheil­vollen Verstrickung in den Mordfall Schmücker mit fatalen Auswirkungen auf das Strafverfahren, der Überwachung von Anwälten, Abgeordneten und Journalisten, von demokratischen Organisationen, die als »extre­mistisch beeinflusst« gelten, und politisch-sozialen Bewegungen, wie der Anti-Atom- und Friedensbewegung, über skandalöse Sicherheitsüber­prüfungen und illegale Telefonabhöraktionen bis hin zu dem fingierten Bombenattentat, das als »Celler Loch« in die Geschichte einging und den oben skizzierten Skandalfällen (VS-Verstrickung in NPD-, NSU- und Neonazi-Szenen etc.). Eine Chronik, die sich bis heute fortsetzt und deut­lich macht: Die Skandale sind keine Einzelfälle, sondern systembedingt.
Trotz der hohen Zahl an V-Leuten im Nazi-Spektrum und NSU-Umfeld haben sich die Erkenntnisse des VS lange Zeit offenbar kaum vermehrt. Was dieser mit Millionenaufwand bisweilen zutage förderte, war für Kenner der braunen Szene nicht gerade erhellend. Jedenfalls hat er als »Früh­warnsystem«, das er eigentlich sein will und soll, über Jahrzehnte hinweg system- und ideologiebedingt versagt.
Statt wirksam aufzuklären hat der VS rechtsextreme Netzwerke, Szenen und Parteien, die er lediglich beobachten soll, vielfach über seine bezahlten Spitzel mitfinanziert, geschützt und gestärkt. Über sein unkontrollier­bares V-Leute-System verstrickte er sich zwangsläufig in kriminelle und mörderische Machenschaften und ist so selbst Teil des Neonazi-Problems geworden.
Gerade in seiner Ausprägung als Regierungsgeheimdienst ist der VS ein Fremdkörper in der Demokratie, da er selbst demokratischen Grundprinzipien der Transparenz und der Kontrollierbarkeit widerspricht. Deshalb neigt der VS als Geheimdienst auch in einer Demokratie zu Verselbstän­digung, Eigenmächtigkeit und Machtmissbrauch, wie seine fast 70-jährige Geschichte eindrucksvoll belegt.[18]
Das Geheimhaltungssystem des VS zum Schutz seiner V-Leute und Ge­heimpraktiken geht über alles – auch über Verhütung und Aufklärung von Verbrechen. Jedenfalls ist es schwer bis unmöglich, diese Behörden so wirksam zu kontrollieren, wie das in einem demokratischen Rechtsstaat selbstverständlich passieren müsste. Das Verdunkelungssystem reicht weit hinein in Justiz und Parlamente, die Geheimdienste kontrollieren sollen – und zumeist daran scheitern. Die parlamentarische Kontrolle erfolgt ihrerseits geheim und damit wenig demokratisch. Gerichtsprozesse, in denen etwa V-Leute eine Rolle spielen, werden teils zu rechtsstaat­lich bedenklichen Geheimverfahren, in denen Akten vorenthalten oder manipuliert, Zeugen ganz oder teilweise gesperrt werden oder nur mit eingeschränkten Aussagegenehmigungen auftreten dürfen.
Doch ausgerechnet solche skandalträchtigen und letztlich demokratie­widrigen Geheiminstitutionen erhalten im Zuge des staatlichen Antiter­rorkampfs wieder unverdienten Auftrieb. Statt ernsthafte Konsequenzen aus ihren Desastern zu ziehen, werden die VS-Behörden personell und finanziell ausgebaut, technologisch aufgerüstet und massenüberwachungs­tauglicher gemacht. So dürfen sie sich inzwischen auf Bundesebene und in manchen Bundesländern, wenn auch besser reguliert, so doch ganz legal krimineller V-Leute bedienen und diese im Zweifel gegen Ermitt­lungen der Polizei abschirmen – ein rechtsstaatswidriger Freibrief für kriminelles Handeln in staatlicher Mission. Damit werden seine obszönen Verflechtungen in rassistische, gewalttätige und mörderische Naziszenen perpetuiert und abgesichert.

Anmerkungen

[1] Vgl. dazu Bodo Ramelow (Hg.), Schreddern, Spitzeln, Staatsversagen, Hamburg 2013; Benjamin-Immanuel Hoff u. a. (Hg.), Rückhaltlose Aufklärung?, Hamburg 2019.

[2] o. V., Lambrecht fordert Öffnung aller NSU-Akten, in: welt.de, 27.06.2019, URL: https://www.welt.de/news­ticker/news1/article196000649/ Parlament-Lambrecht-fordert- Oeffnung-aller-NSU-Akten.html [eingesehen am 01.11.2019].

[3] Anna Brausam, Todes­opfer rechter Gewalt seit 1990, URL: https://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/news/ chronik-der-gewalt/todesopfer-rechtsextremer-und-rassistischer-gewalt-seit-1990; o. V., Todesopfer rechter Gewalt, URL: https:// www.amadeu-antonio-stiftung. de/todesopfer-rechter-gewalt/ [beide eingesehen am 01.11.2019].

[4] Eingehend dazu u. a. Hajo Funke, Sicherheitsrisiko Verfassungsschutz. Staatsaffäre NSU. Das V-Mann-Desaster und was daraus gelernt werden muss, Hamburg 2018.

[5] Christoph Lemmer, »Der Verdacht gezielter Sabotage liegt nahe«, in: Der Westen, 18.08.2014, URL: https://www. derwesten.de/politik/der-verdacht-gezielter-sabotage-liegt-nahe-id9713978.html [eingesehen am 01.11.2019].

[6] Dazu Benjamin-Immanuel Hoff u. Antonia von der Behrens (Hg.), Kein Schlusswort. Nazi- Terror, Sicherheitsbehörden, Unterstützernetzwerk, Hamburg 2018; Andreas Förster, Geheim­sache NSU. Zehn Morde, von Aufklärung keine Spur, Tübingen 2014; Ders. u. a. (Hg.), Ende der Aufklärung. Die offene Wunde NSU, Tübingen 2018.

[7] Im zweiten NPD-Verbotsverfahren (2017) vor dem Bundesverfassungsgericht sind die Antragsteller aus anderem Grund gescheitert: mangels Potentials der NPD, trotz fest­gestellter Verfassungsfeindlichkeit.

[8] Dazu und zum Folgenden ausführlich Rolf Gössner, Ge­heime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Kriminelle im Dienst des Staates, München 2003, S. 206 ff.; Ders., Das NPD-Verbotsverfahren und die Folgen, in: heise.de, 06.10.2003, URL: https://www.heise.de/tp/ features/Das-NPD-Verbotsverfah­ren-und-die-Folgen-3431487.html [eingesehen am 01.11.2019].

[9] Detailliert nachzulesen in Gössner, Geheime Informanten.

[10] Vgl. Gössner, Deck­name »Verfassungsschutz«. Neue Geheimdienste für die stasi-geschädigte Bevölke­rung, in: Ders. (Hg.), Mythos Sicherheit. Der hilflose Schrei nach dem starken Staat, Baden-Baden 1995, S. 181ff.

[11] Die infiltrierenden VS-Aktivi­täten in rassistischen gewaltberei­ten Neonazi-Szenen bergen enor­me Gefahren, die ich in meinem Buch »Geheime Informanten« in mehreren Fallstudien aufgedeckt habe. Diese beispielhaft auf­geführten V-Mann-Fälle stammen aus dieser Publikation und sind dort ausführlicher behandelt.

[12] Urteil der Großen Strafkammer des Landgerichts Schwerin vom 07.07.2000.

[13] Vgl. dazu Konrad Litschko, Ermittler ignorierten Hin­weise, in: Die tageszeitung, 04.06.2019, URL: https://taz.de/ NSU-in-Brandenburg/!5600207/ [eingesehen am 01.11.2019].

[14] Gerhard Schäfer u. a., Gutachten zum Verhalten der Thüringer Behörden und Staatsanwaltschaften bei der Verfolgung des »Zwickauer Trios« vom 14.05.2012, URL: https://www.thueringen.de/ imperia/md/content/tim/veranstaltungen/120515_schaefer_gutachten.pdf [eingesehen am 01.11.2019].

[15] Eingehend zum Agieren des VS: Hajo Funke, Sicherheitsrisiko Verfassungs­schutz, Hamburg 2018.

[16] Zit. Frank Jansen, »Die Behörden sind Teil der Be­drohung«, 28.08.2002, URL: https://www.tagesspiegel.de/ politik/die-behoerden-sind-teil-der-bedrohung/341062.html [eingesehen am 21.11.2019].

[17] Vgl. dazu Gössner, Geheime Informanten, S. 123ff.

[18] Vgl. Heribert Prantl, Wer schützt die Verfassung vor dem Verfassungsschutz? Eine Anklage, München 2014.

 

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019