Neonazis im Dienst des Staates Die Verstrickung des Inlandsgeheimdienstes in rechtsextreme Szenen und Parteien sowie das Umfeld des NSU

Von Rolf Gössner

Speziell im Fall der Nazi-Mordserie und der Nichtermittlung ihres rassis­tischen Hintergrunds kann man kaum allein von Unfähigkeit, Pannen oder Konfusion des polizeilichen Staats- und geheimdienstlichen Verfassungs­schutzes sprechen. Es muss allerdings zusätzlich von ideologischen Scheu­klappen der traditionell antikommunistisch geprägten Sicherheitsorgane ausgegangen werden, von Ignoranz und systematischer Verharmlosung des neonazistischen Spektrums – ja, auch von institutionellem Rassismus, wie die vollkommen einseitigen NSU-Polizeiermittlungen einer »Soko Bosporus« im »migrantischen Milieu« deutlich zeigen, mit denen die Opfer der »Döner-Morde« und ihre trauernden Angehörigen in geradezu rassistischer Weise hartnäckig in schweren Verdacht gebracht und ausgeforscht wurden.

Eine jahrzehntelang einseitig ausgerichtete Politik der »Inneren Sicherheit« begünstigte diese fehlgeleitete Praxis: Terror und Gewalt, Bedrohungen und Gefahren für Demokratie und Verfassung werden – oft alten Feindbildern folgend – in erster Linie mit »Linksextremismus«, »Ausländerextremismus« sowie mit »Islamismus« assoziiert. In diesen Zusammenhängen werden alle Präventions- und Repressionsregister gezogen, die den Sicherheitsbehörden zur Verfügung stehen und im Zuge eines exzessiven Antiterrorkampfes, be­sonders seit 9/11, noch erheblich ausgebaut und verschärft worden sind. Er­mittlungsbefugnisse und mögliche Maßnahmen hätte es demnach mehr als genug gegeben – doch gegen neonazistische Strukturen sind sie offenbar nur zögerlich angewandt worden.

Es ist angesichts dieses enorm gewachsenen Ermittlungsarsenals in ho­hem Maße erklärungsbedürftig, weshalb der rassistische Hintergrund der Mordserie nie ernsthaft erwogen und ausgeleuchtet worden ist, obwohl doch den Sicherheitsbehörden die späteren Täter schon lange bekannt waren, und obwohl Polizei und VS, wie wir inzwischen wissen, mit zahlreichen V-Leu­ten an ihnen und nach deren Untertauchen auch an ihren Kontaktpersonen und Unterstützern ganz nah dran waren.

So viel ist jedenfalls klar geworden: Insbesondere der VS musste von Be­ginn an, dank seiner »Quellen«, seiner geheimen Informanten und V-Leute, weit mehr über das Terror-Trio und sein Helfernetz gewusst haben als zu­nächst vermutet.[4] So stellt es etwa der Bericht des Untersuchungsausschusses des Bundestags fest, ebenso wie Berichte einzelner Landtage, etwa in Thürin­gen. Hiernach seien die VS-Quellenberichte vielfach weder intern weiterge­reicht noch ausgewertet, geschweige denn strafrechtsrelevante Erkenntnisse an die Polizei übermittelt worden – noch nicht einmal im Fall mutmaßlicher Verbrechen. Der Thüringer Ausschuss spricht insoweit vom Verdacht »ge­zielter Sabotage«.[5]

Auf der Anklagebank hätten daher weit mehr Angeklagte sitzen müssen als Zschäpe, Wohlleben & Co. Es fehlten weitere mutmaßliche Neonazis des NSU-Terrornetzwerkes, involvierte V-Leute, ihre V-Mann-Führer und alle für Versagen und Vertuschen Verantwortlichen aus VS, Polizei und Sicher­heitspolitik.[6]

Symbiose von Verfassungsfeinden und Verfassungssützern

Ein Rückblick zeigt, dass um die Jahrtausendwende schon einmal ein Ruck durch das Land ging. Nach mehreren Gewaltakten und Anschlägen rief die herrschende Politik den »Aufstand der Anständigen« aus – gerade zu einer Zeit, als das »Ansehen Deutschlands in der Welt« auf dem Spiel stand und der Rechtsradikalismus zum wirtschaftlichen Standortnachteil geriet. Unterhohem Handlungsdruck stellten Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat einen fachlich und politisch unverantwortlichen Antrag auf Verbot der NPD. Unverantwortlich weshalb? Weil sie diesen Antrag ungeachtet der V-Leute- Unterwanderung der NPD stellten und damit offenbar ein drohendes Ge­heimverfahren billigend in Kauf nahmen. Dies hätte ein rechtsstaatlich-faires Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht unmöglich gemacht, da zahlreiche V-Leute des VS lange Jahre in der NPD an führenden Stellen mit­mischten, die dann im Verbotsprozess als geheime Zeugen fungieren sollten – ausgerechnet in einem Prozess, in dem der demokratische Rechtsstaat gegen verfassungsfeindliche Bestrebungen verteidigt werden sollte. Insoweit und we­gen dieser »Staatsnähe« der NPD war es verfassungsrechtlich nur konsequent, dass das Gericht diesen geheimdienstlich verseuchten Prozess im März 2003 aus verfahrensrechtlichen – nicht etwa aus inhaltlichen Gründen – einstellte.[7]

Das abschreckende Beispiel zeigt: Wir müssen immer wieder hinterfra­gen, wie der Staat seine gesetzlichen Schutzaufgaben wahrnimmt und ob er nicht mitunter die Gefahr, die er eigentlich bekämpfen soll, mit seinen eige­nen spezifischen Mitteln und Methoden noch verschärft.

Im Zusammenhang mit dem ersten NPD-Verbotsverfahren erlebten wir die größte V-Mann-Affäre in der bundesdeutschen Geschichte. Zur Erin­nerung: Etwa 30 der 200 NPD-Vorstandsmitglieder standen seit Jahren als V-Leute im Sold der VS-Behörden des Bundes und der Länder – also fast je­der Siebte, bis zu hundertfünfzig dürften es auf allen Parteiebenen gewesen sein. Allein diese hohe Zahl an staatlich bezahlten Neonazis dürfte erheb­lichen Einfluss auf die NPD und ihre menschenverachtende Politik gehabt haben. Der Berliner Landesvorstand soll sogar so stark unterwandert gewe­sen sein, dass der VS mit seinen V-Leuten einen Beschluss hätte herbeifüh­ren können, die NPD in Berlin aufzulösen. Hat er aber nicht gemacht – im Gegenteil: Die V-Leute waren landauf, landab daran beteiligt, die NPD zu stabilisieren und auszubauen.[8]

So haben etwa die V-Leute Wolfgang Frenz und Udo Holtmann aus Nord­rhein-Westfalen die NPD, trotz und parallel zu ihrer staatlichen Spitzel-Ver­pflichtung, jahrzehntelang mit aufgebaut, ihre Aktivitäten und Zielsetzungen an führenden Stellen entscheidend mitbestimmt und rassistisch geprägt – ob­wohl das nach den internen VS-Dienstvorschriften eigentlich untersagt ist. Frenz, Holtmann und andere haben also das Feld, das sie für den VS von innen beobachten sollten, als V-Leute selbst mitgestaltet. Der Staat hat diese rechtsextreme Partei über seine bezahlten Spitzel letztlich mitfinanziert und gestärkt, anstatt sie zu schwächen. Das heißt: Der Staat trägt hierfür eine Mitverantwortung. Als ich mir vor etwa anderthalb Jahrzehnten vorgenommen hatte, diese ganze Geschichte aufzuarbeiten, darüber hinaus überhaupt den V-Leute-Ein­satz in Neonazi-Szenen genauer unter die Lupe zu nehmen, da konnte ich nur erahnen, was mich in diesem Dunkelfeld erwarten würde. Um es vorweg zu nehmen[9]: Diese Skandalgeschichte hat sich als weit grauenhafter erwiesen als ich mir das zu Beginn meiner Investigativ-Recherchen vorzustellen wagte. Damals hatte ich anhand geheimer Unterlagen und in Fallstudien bereits ein­gehend dokumentiert, was nach Aufdeckung der NSU-Mordserie fast zehn Jahr später bundesweit so großes Erstaunen und helles Entsetzen ausgelöst hat.

Das leise Eingeständnis des im Laufe der NSU-Schredder-Affäre in vor­zeitigen Ruhestand geflüchteten Präsidenten des Bundesamts für VS, Heinz Fromm, seine V-Männer seien nun mal keine »Pastorentöchter«, wird der Dimension des Problems nicht wirklich gerecht. Besonders erschreckend war nämlich, wie systematisch, wie zwangsläufig V-Leute im braunen Sumpf kriminell werden, sofern sie es vor ihrer Verpflichtung nicht ohnehin schon waren. Und mit welcher Dreistigkeit der VS an ihnen festhält, sie in allzu vielen Einzelfällen deckt, ja selbst gegen Ermittlungen der Polizei abschirmt.

V-LEUTE DES »VERFASSUNGSSCHUTZES«: NEONAZIS IM DIENST DES STAATES

Nach dem »Vereinigungsjahr« 1990 hatten die Innenminister des Bundes und der Länder beschlossen, das rechtsextreme Spektrum verstärkt geheim­dienstlich zu unterwandern, um, so die Begründung, die Aufklärung über die zunehmenden Gefahren rechtsextremistischer Gruppierungen zu ver­bessern. Seitdem ist ein weit verzweigtes Netzwerk aus V-Leuten, Lockspit­zeln und verdeckten Ermittlern in allen Neonazi-Szenen entstanden. Nicht nur die NPD, auch andere rechtsextreme Parteien, Organisationen und Ka­meradschaften sowie die Skinhead- und Neonazi-Musikszene sind seitdem mit V-Leuten durchsetzt.[10]

Ein paar Beispiele zur Veranschaulichung:[11] V-Mann Hans-Dieter Lepzien war bereits in den 1980er Jahren als Sprengstoff-Lieferant für die niedersäch­sische Neonazi-Szene tätig; er wurde dafür auch verurteilt, allerdings recht bald vom damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens begnadigt.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019