Neonazis im Dienst des Staates Die Verstrickung des Inlandsgeheimdienstes in rechtsextreme Szenen und Parteien sowie das Umfeld des NSU
Die NSU-Mordserie und ihre ursprüngliche Nichtaufklärung durch staatliche Sicherheitsorgane haben die Bundesrepublik bis heute nachhaltig erschüttert. Die Verbrechen der Nazi-Terrorgruppe NSU, denen zehn Morde und Raubüberfälle zur Last gelegt werden, haben die extreme Gefahr durch rechtsextreme Gewalt endlich in den gesellschaftlichen Fokus gerückt – was allerdings immer wieder in Vergessenheit zu geraten droht.
Mehrere parlamentarische Untersuchungsausschüsse haben sich – gegen viele Widerstände – recht verdienstvoll um Aufklärung bemüht, wenn auch zentrale Fragen bis heute offengeblieben sind. Über fünf Jahre lang mühte sich das Oberlandesgericht München um strafrechtliche Aufklärung und Ahndung. Für Kenner des Milieus war schon frühzeitig abzusehen, dass sich die Mitglieder der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse, aber auch Gerichte an dem Verdunkelungssystem vor allem des Inlandsgeheimdienstes »Verfassungsschutz« die Zähne ausbeißen würden. Und genau so ist es gekommen.
Die »Verfassungsschutz«-Behörden des Bundes und der Länder …
… sind Institutionen, die offen oder verdeckt Informationen u. a. über Bestrebungen gegen die »freiheitliche demokratische Grundordnung« sammeln und auswerten. Als »Frühwarnsysteme« sollen sie Regierungen und Parlamente über verfassungsfeindliche Bestrebungen frühzeitig informieren, in gewissem Maße auch Polizei und Öffentlichkeit.
Das hört sich zunächst ganz sinnvoll an – doch strenggenommen trägt der »Verfassungsschutz« (VS) einen irreführenden Tarnnamen, hinter dem skandalgeneigte Inlands- und Regierungsgeheimdienste des Bundes und der Länder stecken, ausgestattet mit geheimen Mitteln, Methoden und Strukturen, die gemeinhin als »anrüchig« gelten: Der VS hat die gesetzliche Befugnis, geheime Informanten, V-Leute und verdeckte Ermittler einzusetzen sowie technische Hilfsmittel für Observationen, Lausch- und Spähangriffe.
Damit hat der jahrzehntelang stark ideologisch-antikommunistisch geprägte VS die Lizenz zur Manipulation und Desinformation sowie zur heimlichen Gesinnungsüberprüfung, Infiltration und Ausforschung politisch verdächtiger Gruppen und Parteien, aber auch von Individuen – und zwar weit im Vorfeld eines möglichen Straftatverdachts oder einer messbaren Gefahr. Diese geheimen Mittel, Methoden und Strukturen entziehen sich weitgehend wirksamer rechtsstaatlich-demokratischer Kontrolle. Zugespitzt formuliert: Hier endet der demokratische Sektor – und genau das ist der Kern allen Übels. Was dies für Folgen hat, davon handelt dieser Beitrag.
Geheimdienstliches Verdunkelungssystem in Aktion
Nachdem die Sicherheitsbehörden mehr als ein Jahrzehnt lang nicht in der Lage oder willens waren, den rechtsterroristischen NSU-Mördern auf die Spur zu kommen, konzentrierten sich einige Ämter für »Verfassungsschutz« (VS) in Bund und Ländern mit geradezu krimineller Energie darauf, die Spuren ihres Versagens, ihrer Aktivitäten und Unterlassungen zu verdunkeln und zu vernichten; so sind hunderte VS-Akten insbesondere über V-Männer aus Neonazi-Szenen klammheimlich geschreddert und den Untersuchungsausschüssen und Gerichten vorenthalten worden.[1]
Die parlamentarischen Kontrolleure in den Untersuchungsausschüssen des Bundestags und diverser Landtage blickten in unglaubliche Abgründe einer organisierten Verantwortungslosigkeit; entsprechend vernichtend fällt parteiübergreifend ihr Urteil aus: »historisch beispielloses Staats- und Behördenversagen«. Darüber hinaus sind V-Leute und Zeugen auf teils ungeklärte Weise ums Leben gekommen, vor allem im Zusammenhang mit der Aufklärung des Mordes an der Polizistin Michèle Kiesewetter, der ebenfalls dem NSU zugerechnet wird.
Die Behinderungen der Polizeiermittlungen im Fall des hessischen V-Mann-Führers Andreas Temme, alias »Klein-Adolf«, der bei einem der NSU-Morde am Tatort in Kassel war, sind symptomatisch für diese Abschottungsstrategie. Der Fall harrt immer noch der Aufklärung. Nach dem Willen des hessischen Innenministeriums sollten interne Berichte und NSU-Akten des VS 120 Jahre lang als »streng geheim« klassifiziert unter Verschluss gehalten werden. Erst angesichts des Mordes an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, dessen mutmaßlicher Mörder Verbindungen zum NSU gehabt haben soll, ist die Sperrfrist jetzt auf 40 Jahre heruntergestuft worden.[2]
Nachdem die von den mutmaßlichen Tätern weitgehend selbst aufgedeckte NSU-Mordserie mit zehn Mordopfern, zwei Sprengstoff-Attentaten und 15 bewaffneten Raubüberfällen nach 13 Jahren im November 2011 praktisch ohne Zutun der Sicherheitsbehörden als Nazitaten bekannt geworden waren, zeigte sich das offizielle Deutschland bass erstaunt. Doch diese öffentliche Erschütterung über rechten Terror ist ihrerseits erstaunlich angesichts der Tatsache, dass seit 1990, also dem Jahr der deutschen Vereinigung, knapp 200 Menschen von Neonazis und anderen fremdenfeindlich eingestellten Tätern erschlagen, erstochen, aus fahrenden Zügen geworfen, zu Tode gehetzt oder verbrannt worden sind.[3] Mit den NSU-Morden kamen zehn Opfer hinzu, mit dem rassistisch motivierten Amoklauf in München weitere neun und 2019 dann mit dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) und dem antisemitisch-rassistischen Attentat in Halle weitere drei. Die Terrorangriffe gegen Asylbewerber und andere Geflüchtete, gegen Juden, Muslime und Linke gehen weiter.
Verharmlosung Rechter und Rechtsterroristischer Gewalt
Das mörderische Phänomen ist also keineswegs neu – auch wenn sich viele Sicherheitspolitiker jedes Mal vollkommen überrascht geben. Die Sicherheitsorgane des Bundes und der Länder – also Polizei, VS und Justiz – haben lange Zeit die rechte Gefahr verharmlost, redeten gerne von Einzeltätern, leugneten organisatorische Zusammenhänge und rechtsterroristische Tendenzen, haben sich oft indifferent oder dilettantisch verhalten und damit schon frühzeitig, aber bis hinein in die jüngere Zeit falsche Zeichen gesetzt. Deswegen ist die Bundesrepublik auch mehrfach von internationaler Seite gerügt worden – so von Amnesty International, der Menschenrechtsorganisation »Helsinki Watch«, vom UN-Ausschuss zur Beseitigung rassischer Diskriminierung und vom UN-Menschenrechtsrat.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019