Neonazis im Dienst des Staates Die Verstrickung des Inlandsgeheimdienstes in rechtsextreme Szenen und Parteien sowie das Umfeld des NSU

Von Rolf Gössner

Erinnert sei auch an den V-Mann Bernd Schmitt, dessen Kampfsportver­ein »Hak Pao« Trainingscenter der gewalttätigen Neonazi-Szene in Solingen war. Aus diesem Kreis stammten jene Brandstifter, die eines der schwersten Kapitalverbrechen in der Geschichte der Bundesrepublik auf dem Gewissen haben: den Solinger Brandanschlag, bei dem 1993 fünf türkische Frauen und Mädchen ums Leben kamen Anfang 2000 ist Michael Grube, Deckname: Martin, V-Mann des mecklen­burg-vorpommerschen VS zu dreieinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden, weil er mit rechtsradikalen Jugendlichen einen Brandanschlag auf eine Pizzeria in Grevesmühlen verübt hatte. Die Täter hätten, so hieß es in der Urteilsbegründung des Amtsgerichts Wismar, ein Pogrom inszeniert, um Ausländer systematisch zu vertreiben – und das unter tatkräftiger Mitwir­kung eines VS-Mitarbeiters. Grubes Tatmotiv, so das Gericht später: »dump­fer Ausländerhass«. Er habe die Tat mitbegehen müssen, so rechtfertigte sich Grube, um bei seinen Kameraden glaubwürdig zu erscheinen, um nicht als Spitzel aufzufallen und sich nicht selbst in Gefahr zu bringen. Brandstiftung aus Angst vor Enttarnung?

Tatsächlich können V-Leute in der eigenen Szene, die sie für den VS ausspionieren, nicht einfach als bloße Beobachter agieren, sondern müs­sen weiterhin aktiv bleiben und sich anpassen, auch in der gewaltbereiten Szene – sonst könnte man ja auffallen und Misstrauen schüren. Solche Si­cherungsmaßnahmen sind auch im Interesse des VS, um seine V-Leute in der Szene abzusichern. Schließlich hat der VS als geheimdienstliche Vor­feldinstitution ein langfristiges Ausforschungsinteresse und ist, anders als die Polizei, nicht an das Legalitätsprinzip gebunden, muss also nicht jede Straftat, von der er erfährt, anzeigen oder ermitteln. Im Übrigen kann sich der VS regelmäßig von jeder Verantwortung freizeichnen; im Zweifel haben die V-Leute eigenmächtig gehandelt – sind, wie es dann so schön heißt, »aus dem Ruder gelaufen«. Zurück zum Urteil gegen Grube: Interessanterweise hat das Landgericht bei seiner Strafzumessung die V-Mann-Eigenschaft des Angeklagten indi­rekt strafmildernd berücksichtigt: Die Strafkammer hatte »zu Gunsten des Angeklagten« davon auszugehen, so steht es im Urteil wörtlich, »dass der Angeklagte bei seiner Verpflichtung […] nur unklar darüber belehrt worden ist, dass er in seiner Rolle als V-Mann keinerlei Straftaten begehen darf«.[12]

Ein anderer Fall: Anfang 2000 ist der V-Mann mit dem Tarnnamen »Piato« aufgeflogen, der für den VS Brandenburg gearbeitet und monatlich bis zu tausend Mark Informantengeld aus der Staatskasse bezogen hatte. Bereits 1995 war der militante Nationalist mit dem Namen Carsten Sczepanski vom Landgericht Frankfurt/Oder wegen versuchten Mordes zu acht Jahren Haft verurteilt worden – wurde aber, nachdem er trotz der Schwere seiner Tat als VS-Spitzel angeheuert worden war, rasch Freigänger und tummelte sich wei­ter in der rechten Szene. Der Täter hatte als »Führer einer Meute Skinheads« einen schwarzen Asylbewerber bis zur Bewusstlosigkeit zusammengeschla­gen, ihn zum Scharmützelsee geschleift und ins Wasser geworfen; erst in letzter Sekunde wurde der Mann gerettet. Der Verurteilte saß nur fünfein­halb Jahre seiner Strafe ab. Danach schickte ihn der VS in die NPD, wo er als Topquelle galt. Übrigens spielte er auch eine Rolle im Zusammenhang mit dem untergetauchten NSU-Trio.[13]

Im Vorfeld des NSU-Komplexes waren der Thüringer VS und andere Ge­heimdienste mit mehreren V-Leuten auch in dem Neonazi-Netzwerk »Thü­ringer Heimatschutz«, kurz: THS, schon frühzeitig aktiv, in dem die späteren mutmaßlichen Mörder organisiert waren. Von den etwa 140 Mitgliedern des THS sollen 40 V-Leute und Informanten gewesen sein. Zu den herausragen­den V-Leuten gehörten der vorbestrafte Thomas Dienel, Deckname »Küche«, sowie der kaufmännische Angestellte Tino Brandt, alias »Otto«. Nach Aus­sagen des ehemaligen Thüringer VS-Chefs habe man den umtriebigen, für die »nationale Sache« streitenden Brandt in seiner Spitzelzeit eng geführt und streng überwacht; dennoch – oder gerade deswegen? – konnte er in führender Position den militanten THS auf- und ausbauen und mit seinen Spitzelhonoraren in Höhe von etwa 200.000 DM auch mitfinanzieren, wie er selbst im Münchner NSU-Prozess als Zeuge bestätigte. Tatsächlich war das Schicksal des THS aufs Engste mit dem V-Mann Tino Brandt verbun­den: Kaum wurde dieser 2001 als solcher enttarnt, stellte der THS prompt seine Arbeit wieder ein.

Der THS hatte sich unter Führung von Tino Brandt zu einem der größ­ten überregionalen Netzwerke mit bis zu 170 Mitgliedern entwickelt – ein regelrechtes Sammelbecken von Neonazis. Nach Brandts Aussagen im NSU-Prozess hätte der THS ohne den VS »nicht diese bundesweite Bedeu­tung bekommen«. Und just dieser geheimdienstlich unterwanderte THS war eine wesentliche Keimzelle der Terrorgruppe NSU, die sich praktisch vor den Augen der Geheimdienst-Zuträger und ihrer Auftraggeber aus dem THS he­raus entwickeln konnte.

Aus Geheimberichten wird deutlich, dass unter anderem V-Mann Tino Brandt sowie V-Mann Ralph Marschner alias »Primus« aus der Zwickauer Naziszene dem NSU-Trio auch nach dessen Abtauchen und in dessen Mord­phase tatkräftig geholfen hatten, weiterhin im Untergrund zu leben und sich dem Zugriff der Polizei erfolgreich zu entziehen. Brandt soll seinem V-Mann- Führer von den Kontakten zwar berichtet haben – Informationen, die offen­bar nicht an die Polizei weitergeleitet wurden. Wie wir inzwischen erfahren mussten, waren noch weitere V-Leute ganz nah dran an den späteren Mör­dern, ihren Kontaktpersonen und Unterstützern.

Die Mordserie hätte womöglich verhindert werden können, wenn der VS schwerwiegende Erkenntnisse über verbrecherische Straftaten und mutmaß­liche Wohnorte der Untergetauchten und ihrer Unterstützer rechtzeitig an die Polizei weitergegeben hätte – wozu er im Fall von Verbrechen gesetz­lich auch verpflichtet war. Der Thüringer VS habe »durch sein Verhalten die Tätigkeit der Strafverfolgungsbehörden bei der Suche nach dem Trio massiv beeinträchtigt«, so das im Auftrag des Freistaats Thüringen erstellte Schäfer-Gutachten[14] – höchstwahrscheinlich aus übergeordneten Gründen des »Quellenschutzes« und »Staatswohls«. Im ersten Bericht des Thüringer Untersuchungsausschusses wird sogar der »Verdacht gezielter Sabotage und des bewussten Hintertreibens« bei der Suche nach dem flüchtigen NSU-Trio geäußert.[15]

»Verfassungsschutz«: Teil des Neonazi-Problems

Niemand weiß so recht, wie viele V-Leute und geheime Informanten für den VS arbeiten. Diese Unkenntnis liegt in der »Natur der Sache«, aber es dürf­ten bundesweit und in allen Beobachtungsbereichen schätzungsweise meh­rere Tausend sein. V-Leute – auch »menschliche Quellen« genannt – zählen zu den klassischen und zugleich wichtigsten Informationsquellen eines Ge­heimdienstes – nicht nur hierzulande, sondern weltweit. Sie werden vom VS in aller Regel mit mehr oder weniger Druck und mit Versprechungen rekru­tiert. Die Anwerbung geschieht etwa nach einer Straftat, im Gefängnis oder wenn der Anzuwerbende verschuldet ist, Drogen konsumiert oder in einer persönlichen Krise steckt – also leicht erpress- und verführbar ist. In aller Regel stammen V-Leute aus den zu beobachtenden Szenen und somit handelt es sich im rechtsextremen Spektrum um hartgesottene Neonazis, gnadenlose Rassisten, nicht selten auch um Gewalttäter.

Über seine bezahlten Nazi-V-Leute verstrickt sich der VS fast zwangsläufig in kriminelle Machenschaften, wobei auch Straftaten geduldet, direkt oder indirekt gefördert werden. Brandstiftung, Totschlag, Mordaufrufe, Waffen­handel, Gründung einer terroristischen Vereinigung – das sind nur einige der Straftaten, die »Vertrauensmänner« des VS im Schutz ihrer Tarnung be­gingen und begehen. Und ihre V-Mann-Führer im VS, mit rechtsorientierter Gesinnung bestens vertraut, verhalten sich im Umgang mit ihren V-Leuten oft vertrauensselig, sodass mitunter von einer regelrechten Kumpanei gespro­chen werden muss – zumindest aber von Distanzlosigkeit.

Der V-Mann ist für den VS umso wertvoller, je mehr (vermeintlich) bri­sante Infos er liefert, für die er dann honoriert wird. Viele V-Leute erhalten sogar ein regelmäßiges Salär, das bei langfristigem Engagement mitunter in die Hunderttausende geht. Damit finanziert und fördert der VS jene Objekte und Nazi-Strukturen direkt oder indirekt mit beträchtlichen Summen, die er lediglich beobachten und bekämpfen soll.

Mit ihrer Käuflichkeit begeben sich V-Leute in ein fatales Abhängigkeits­verhältnis zum VS, das sie »erpressbar« und »produktiv« macht, um die Ver­günstigungen und Honorare zu erhalten, die sie für ihre Spitzeldienste im Dienst des Staates beziehen – Beispiele hierfür gibt es leider genug. V-Leute sind eben keine »Ehrenmänner«, reuigen Sünder oder »Agenten« des demo­kratischen Rechtsstaats, sondern in aller Regel staatlich alimentierte Nazi­aktivisten und rechte Gewalttäter.

Der VS sichert seinen V-Leuten Vertraulichkeit zu: Ihre heimliche Neben­tätigkeit und Identität sollen Dritten gegenüber verheimlicht werden – einer­seits, um sie nicht zu enttarnen, andererseits, um sie vor Racheakten der Ausspionierten zu schützen. Diese amtliche Verdunkelungsstrategie hat, wie eingangs bereits beschrieben, erhebliche Auswirkungen auf die Kontrolle des V-Mann-Einsatzes, aber auch auf Gerichtsverfahren, in denen V-Leute eine Rolle spielen.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019