»Die politische Mission des olympischen Sports ist im Grunde der Kampf gegen den Rassismus« Ein Gespräch mit Gunter Gebauer über sich wandelnde Körperverständnisse, Sport als Selbstzweck, seine politische Dimension und die Notwendigkeit einer neuen Sportethik

Interview mit Gunter Gebauer

Sie sagen, dass die wesentlichen Kennzeichen des bürgerlichen Körperverständnisses die Leistung, der Wettkampf und damit die formale Gleichheit sind. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat demgegenüber die »feinen Unterschiede« betont, die sich über Haltung, Auftreten, Habitus vermitteln, also nicht zuletzt über Körperliches, und darüber soziale Hierarchien und Machtverhältnisse festschreiben. Besteht hier nicht ein Widerspruch zu Ihrer Deutung des Sports als großem Gleichmacher?

Nein, die Vorgeschichte ist wichtig! Man musste erst einmal dahinkommen, dass der leistungsfähige Körper überhaupt als ein relevanter Faktor wahrgenommen wird. In dieser Entwicklung, die mit der Turnbewegung einsetzte, findet sich die Gleichheitsidee. Welcher Natur diese ist, lässt sich durch die Geschichte des englischen Fußballs verdeutlichen: Schon in den 1870er und 1880er Jahren war der Fußball dort etabliert und verbandsmäßig organisiert, zunächst aber beschränkt auf die Absolventen der Public Schools und jener Universitäten, an denen sie studierten, nämlich Oxford und Cambridge. Fußball war ein Sport der Oberklasse. Daneben hat sich aber nicht die bürgerliche, sondern die Arbeiterklasse dafür interessiert. Auch sie hat angefangen, Fußball zu spielen und Kontakt zu den Absolventen der Public Schools aufgenommen. Beide Seiten wollten gegeneinander spielen. Es ist typisch englisch, dass sich eine solche klassenübergreifende, teilweise ganz unwahrscheinliche Wettkampfkonstellation herausbildete, bei der ein Herr gegen den Diener lief und man darum wettete, wer wohl gewinnen möge. Das ist die Vorgeschichte. In dem Moment aber, wo man gegeneinander Fußball spielte und gemeinsam Wettkämpfe austrug, herrschte eine Gleichheitsvorstellung. In England blieben die Klassendifferenzen bestehen, so dass diese Gleichheit auf die Dauer des Spiels begrenzt blieb. Auch war der englische Sport lange Zeit klassenbestimmt; sollten etwa beim Rudern bestimmte Gruppen nicht dabei sein.
Der Sport, der sich auf dem Kontinent entwickelte, war sozial offener. Wer sich etwa in der Leichtathletik, der Königsdisziplin der Olympischen Spiele, aufgrund seiner Leistung qualifiziert hatte, konnte auch an den Wettkämpfen teilnehmen. Sobald die Leute in Sportkleidung antraten, gab es keine sozialen Unterschiede mehr. Solche Unterschiede wollten gerade auch die oberen Klassen im Sport nicht haben, war Ihnen doch viel daran gelegen, ehrlich zu gewinnen, ob die Gegner nun aus einer anderen Nation oder aus einer anderen Klasse kamen. In dieser Hinsicht wirkte der Sport tatsächlich als Gleichmacher, besonders dann im frühen 20. Jahrhundert, als die Arbeiter zum Fußballspiel vorgestoßen waren. Dass etwa der FC Sankt Pauli zuweilen immer noch als »Prollverein« gilt, während dem Hamburger SV der Ruf des feinen Pinkelvereins anhaftet, ist heute nur noch Folklore. In den 1950er Jahren dagegen waren solche Unterschiede noch deutlich spürbar. Entscheidend war aber, dass das im Wettkampf keine Rolle spielte und der Sport es verstanden hat, die Klassendifferenzen zwar nicht unsichtbar, aber sekundär zu machen. Das ist sicher eine große Leistung des Sports.

Die »feinen Unterschiede« sind also bloß »sekundär«?

Was wir mit der Distinktion benennen, steht im Zeichen größerer historischer Veränderungen. Dass die Aufmerksamkeit auf den Körper gerichtet wurde, lag zunächst einmal nicht am Sport. Sportler waren Außenseiter. Wenn ich als Sportler während meiner Studienzeit Mitte der 1960er Jahre durch den Park lief, haben einige ältere Damen ihre Hunde losgelassen, damit sie mir in die Haxen bissen. Noch vor fünfzig Jahren kannten auch viele den Unterschied zwischen Sportmedaillen und Sportabzeichen nicht – und in Philosophenkreisen erschien es lange Zeit vollkommen absurd, dass ich mich für Sport interessierte. Doch sukzessive spielte das Körperliche eine immer größere Rolle. Mit der aufkommenden Fitnesswelle begannen immer mehr Leute dann einerseits, selbst Sport zu betreiben, andererseits wurde ein sportliches Aussehen wichtig. Ein durchtrainierter Körper wurde auch für Frauen zum Schönheitsideal. Mit dem kalifornischen Modetrend änderten sich auch die Kleidungsstandards. Während man zu Beginn der 1960er Jahre keinesfalls in Sportschuhen zur Uni gegangen wäre, war Sportkleidung Ende desselben Jahrzehnts bereits alltagstauglich, waren Polohemd und kurze Hosen nicht mehr verpönt. Als ich 1966, in den Anfängen der Studentenbewegung, zum Studium nach Berlin ging, haben wir uns unter Kommilitonen noch gesiezt. An der Universität ging es sehr formell zu, zwar egalitär im Anspruch, aber Reste von Standesdenken und Ressentiments bezüglich sozialer Schichtzugehörigkeiten hatten noch Bestand, auch ausgedrückt durch Kleidung.
Die Jeans, Polohemden und T-Shirts wirkten dem entgegen; neue, sportliche Kleidernormen sickerten allmählich auch in die gehobene Gesellschaft ein und das zunehmend von körperlicher Fitness geprägte Frauenbild stand dem Bild des Fräuleins mit hohen Absätzen gegenüber. Fitness als Begriff hat sich damals überhaupt erst etabliert. Im Vorfeld der Olympischen Spiele 1972 in München begann dann, angestoßen vom Deutschen Sportbund, eine große Fitnessbewegung. Zahlreiche Trimm-Dich-Pfade wurden im Zuge dessen eingerichtet und von der Bevölkerung auch angenommen. Das Interesse an Sport, an sportlichen Leistungen und einem entsprechenden Aussehen, nahm in den 1970er Jahren gewaltig zu, besonders auch die deutlich höhere Beteiligung von Frauen am Sport. Es kam zu einer zunehmenden Beachtung des Körperlichen. Attraktivität und Ansehen von Studenten bemaßen sich weniger daran, etwa zu den Besten eines Seminars zu gehören, stattdessen trat die sportliche Erscheinung in den Vordergrund.

Das Gespräch führten Matthias Micus und Katharina Heise.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. -2020 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020