»Die politische Mission des olympischen Sports ist im Grunde der Kampf gegen den Rassismus« Ein Gespräch mit Gunter Gebauer über sich wandelnde Körperverständnisse, Sport als Selbstzweck, seine politische Dimension und die Notwendigkeit einer neuen Sportethik

Interview mit Gunter Gebauer

Angesichts der völkerverständigenden Funktion von Olympia und der friedensorientierten Rhetorik ist es erstaunlich, dass der Nationalsozialismus 1936 die Olympischen Spiele so erfolgreich in den Dienst seiner Propagandamaschinerie stellen konnte. Welche Aspekte des Olympismus haben das begünstigt?

Erstens ist diese Friedensrhetorik eben weitgehend Rhetorik. In dem Moment, als der Erste Weltkrieg ausbrach, sind alle Nationen zu den Waffen geeilt. geeilt. Und Pierre de Coubertin, der die Olympischen Spiele mit der Gründung des Internationalen Olympischen Komitees 1894 wiederbelebt hatte, fand das auch völlig richtig! Man müsse, meinte er, im ritterlichen Geiste gegeneinander kämpfen. Ebendiese Vorstellung von einem ritterlichen Kampf, die vor dem Ersten Weltkrieg herrschte, erlaubte es, im Krieg keinen Widerspruch zur olympischen Idee zu sehen, wenn sich die Gegner nach seinem Ende wieder versöhnten. Dieser Kampf konnte auch mit dem Tode enden. Schon die antiken Olympischen Spiele waren zwar friedliche Spiele, aber es gab keinen olympischen Frieden, keinen Frieden zwischen den griechischen Poleis. Das ist eine spätere Erfindung. Die Friedensrhetorik diente nur dazu, die Olympischen Spiele in einer Zeit der Kriegstreiberei, nämlich vor dem Ersten Weltkrieg, für breite, insbesondere für die führenden Schichten in den wichtigen Ländern Europas attraktiv zu machen. Coubertin hatte die kluge Idee, die führenden Vertreter der Friedensbewegung seiner Zeit ins Olympische Komitee aufzunehmen. Da war sehr viel Propaganda dabei.
Was nun den Nationalsozialismus angeht: 1936 war Deutschland im Vorfeld der Spiele kriegerisch aufgerüstet worden, mit sehr viel sportlicher Aktivität, aber auch mit paramilitärischer und militärischer Disziplin. Das hat nicht wenigen unheimlich imponiert. Es ist immer die Achillesferse von Sportverbänden gewesen, dass sie autoritären Regimes gegenüber empfänglich sind; dass sie Sport und Körperertüchtigung so sehr schätzen und damit auch Disziplin, Ordnung, gute Organisation und Kriegsfähigkeit. Es hat die Leute überall, auch im Ausland, beeindruckt, dass Deutschland relativ schnell wieder auf die Beine gekommen war und sich innerhalb kurzer Zeit so wehrhaft und stark darstellte. Die enorme Aggressivität, die damit einherging, war eigentlich nicht zu übersehen. Keine drei Wochen nach den Olympischen Winterspielen 1936 in Garmisch-Partenkirchen hat Hitler seine Truppen ins Rheinland einmarschieren lassen. Das war ein eklatanter Verstoß gegen den Versailler Friedensvertrag. Zugleich aber hat das Deutsche Reich damit geworben, im Sommer 1936 die größten und prächtigsten Spiele aller Zeiten zu veranstalten – mit dem größten Stadion, der besten Organisation, der fantastischsten Pressearbeit und zahlreichem Entgegenkommen gegenüber den Gästen. Das hat gewirkt. Den meisten Sportfunktionären im Ausland war die politische Orientierung des Nationalsozialismus egal. Und die meisten Sportfans waren politische Naivlinge, denen es darum ging, Sport anzuschauen. Schon lange bevor Hitler von mächtigen und großartigen Spielen fabulierte und tatsächlich in kurzer Zeit gewaltige Bauten errichten ließ, hatte Carl Diem, der Organisator der Spiele, den Reichswehrgenerälen eine paramilitärische Sporterziehung angeboten. Zur Zeit des 100.000-Mann-Heeres in der Weimarer Republik war die Vorbereitung der Olympischen Spiele natürlich eine ideale Gelegenheit, die Jungen zu mobilisieren und paramilitärisch auf den Krieg vorzubereiten. All das hat im Ausland nur wenigen Sorge bereitet. Auch in Italien hatte Mussolini ein Volk, das sportlich nicht als außerordentlich tüchtig galt, so fit gemacht, dass es 1932 in Los Angeles die zweitstärkste Nation nach den Amerikanern wurde. Diesen Erfolg hatte Mussolini in den Jahren zuvor durch eine entsprechende Sporterziehung forciert. All diese autoritären und, wie wir heute sagen würden, faschistischen Merkmale einer solchen Bewegung wie in Italien haben den Autoritäten und Sportpolitikern in demokratischen Ländern wie Frankreich, England und teilweise auch den USA durchaus nicht missfallen. Man hat darin eher ein Vorbild gesehen …

… auch unabhängig von der ausgefeilten Olympia-Propaganda im nationalsozialistischen Deutschland …?

… worauf dann die Propaganda, die im Vorfeld der Olympischen Spiele in Deutschland 1936 betrieben wurde, aufbauen konnte. Es war vor allem Carl Diem, der losgezogen ist und überall in der Welt den Olympiabotschafter gespielt hat. Diem war zwar militaristisch orientiert, sah jedoch nicht sehr martialisch aus. Er war ein rhetorischer Feuerkopf, der alle mitriss. In Deutschland trieb er ein großes Volksbildungs- und Volksbewegungsprogramm zugunsten des Sports voran, erhob die tägliche Sportstunde zum politischen Programm, propagierte, dass jede Kommune ein Schwimmbad haben müsse, und vieles mehr. Das hat Sport- und Gesundheitsinteressierten gefallen. Und so sahen die meisten im In- und Ausland in den Olympischen Spielen 1936 nicht ihre unverkennbaren nationalsozialistischen Züge, sondern ein wundervolles Ereignis. Die Propagandafachleute der Nazis, darunter Goebbels und Teile des Innenministeriums, haben die Olympischen Symbole und die Vorstellungen davon, wie das Fest der Olympische Spiele ausgetragen werden sollte, angenommen und mit Nazibrauchtümern vermischt. Das olympische Feuer wurde erst mit den Nazis für den olympischen Fackellauf eingesetzt, der die Leute entzückte. Die Neunte Sinfonie von Beethoven wurde Coubertins Wunsch entsprechend gespielt – zur Eröffnung durch die Berliner Philharmoniker, eines der berühmtesten Orchester der Welt, zudem unter Wilhelm Furtwängler, einem der größten Dirigenten seiner Zeit. Olympisch nicht vorgesehen war, sie in einer Art Nachtfeier zu spielen und mit Flak- Scheinwerfern einen Lichterdom über dem Stadion entstehen zu lassen. Das hatte martialische Züge und war eine Perversion. Die Neunte Sinfonie von Beethoven war ja in der Vorstellung geschrieben worden, die Menschen durch Musik zusammenzubringen und dadurch zu besseren Menschen zu machen. Beethoven war ein großer Verehrer Schillers. Die Ode an die Freude enthält Anklänge an das Schiller’sche Spielverständnis, das da lautet, der Mensch sei nur da im vollsten Sinne Mensch, wo er spiele. Nun ließe sich sagen, bei den Olympischen Spielen gebe es diesen spielenden Menschen, den Homo ludens. Und man kann hoffen, dass Menschen dadurch besser werden. Aber das war eben Rhetorik, Propaganda.

Von Sportfunktionären wird Sport gerne als Schule für demokratisches Verhalten gesehen. Es gab auch Versuche, den Sport als Förderziel ins Grundgesetz aufzunehmen. Gleichzeitig sind es auch und gerade heute autoritäre Herrscher, die sich öffentlich in athletischer Pose zur Schau stellen. Woher kommt die Instrumentalisierungsanfälligkeit des Sports durch Diktatoren?

Ihre Frage adressiert solche Diktatoren, die ihre Macht auf autoritäre Herrschaft aufbauen, also auf Massenaufmärsche und Massenereignisse, auf Disziplin und körperliche Stärke. Durch die Teilnahme an Massenaufmärschen sollen die Menschen das Gefühl von Größe und Macht erlangen, was natürlich auch einen mittelbaren Nutzeffekt für kriegerische Handlungen hat. Es gibt andere Regime, die stärker auf religiösen Riten aufbauen, etwa auf gemeinsamen Gebeten oder dem siebenmaligen Umrunden der Kaaba. Diese bringen eine andere Art von autoritären Herrschern hervor als jene, an die Sie denken. Es waren historisch insbesondere die faschistischen und die kommunistischen Herrscher, die auf Massenaufmärsche setzten. Nun ist ein Mann wie Wladimir Putin, der sich in athletischer Pose inszeniert, oder jemand wie Recep Tayyip Erdogan, kein kommunistischer oder faschistischer Herrscher, doch es gibt eine gewisse Nähe. Putin ist nicht Stalin, aber er ist ein autoritärer Herrscher, der sein Land unterjocht. Und auch Erdogan tritt den Rechtsstaat mit Füßen und setzt alles daran, seine Herrschaft zu stabilisieren, selbst wenn er dabei illegale Tricks anwenden muss. Hier findet sich einiges aus dem Arsenal, das sich der Faschismus ausgedacht hat, darunter auch Paramilitärisches und das Eingreifen in Kriege. Das sehen wir gegenwärtig in Syrien, wo Putin wie auch Erdogan ihre Truppen eindeutig völkerrechtswidrig einsetzen. Um solch eine Politik durchzuführen, braucht man Leute, die wie menschliche Panzer vorgehen, denen man das Gewissen abtrainiert hat. Und es braucht Leute, die Gehorsam gewohnt sind. In der Bundesrepublik haben wir eine Bundeswehrarmee, in der grundsätzlich jeder demokratisch nachfragen kann, ob das Handeln der politischen Führung richtig ist. Der militärische Drill der türkischen oder russischen Militärausbildung aber lässt solche Fragen nicht zu. Sie werden, ebenso wie das Bewusstsein eigener Rechte, nicht zugelassen. Die autoritären Herrscher setzen offensichtlich auf solche Leute, die in der Lage sind, im Verbund miteinander – und im modernen Krieg auch im Verbund mit Maschinen – einzugreifen, ohne Befehle zu hinterfragen und ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung oder die Genfer Konvention zu nehmen. Das macht die erwähnte Nähe aus.

Das Gespräch führten Matthias Micus und Katharina Heise.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. -2020 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020