»Die politische Mission des olympischen Sports ist im Grunde der Kampf gegen den Rassismus« Ein Gespräch mit Gunter Gebauer über sich wandelnde Körperverständnisse, Sport als Selbstzweck, seine politische Dimension und die Notwendigkeit einer neuen Sportethik
Mit dem Sport und durch ihn werden immer auch Werte vermittelt. Wenn nun dem Sport im Allgemeinen und dem Profisport im Besonderen heute eine höhere Aufmerksamkeit zukommt, läge es dann nicht nahe, die als Sportler erworbene Prominenz für politische Zwecke zu nutzen?
Es gibt eine ganze Reihe von berühmten Fußballspielern, die sich intensiv um die Förderung von Kindern kümmern. Einige von ihnen haben Stiftungen gegründet, wie Per Mertesacker, der Kindern und Jugendlichen mit sozialen Problemen Integration durch Sport zu ermöglichen versucht, oder Toni Kroos, dessen Stiftung ein Kinderhospiz tatkräftig unterstützt. Ich finde es beachtlich, wenn sich begabte Sportler für solche Dinge einsetzen. Sport ist aber nicht per se problemlösend und Sport ist nicht per se politisch. Die Resonanz von politisch tätigen Sportlern und Sportlerinnen etwa ist nicht unproblematisch. Schließlich wird prominenten Sportlern vielfach nicht zugetraut, dass sie sich vernünftige politische Meinungen bilden können. Nicht ganz grundlos, bleibt dafür doch, bei zehn Trainingseinheiten und mehr pro Woche, auch nicht unbedingt die Zeit. Zudem sehe ich ganz generell keinen Grund, warum Sportler in der politischen Willens- und Meinungsbildung versierter sein sollten als andere Prominente oder Durchschnittsbürger. Prominenz in den Dienst einer politischen Sache zu stellen, kann insbesondere dann äußerst sinnvoll sein, wenn es einen Bezug zu dem gibt, was ein Prominenter macht. Ich halte es etwa für sehr glaubwürdig, wenn ein Sportler wie Jérôme Boateng, der selbst Opfer von rassistischen Bemerkungen des AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland geworden ist, sich gegen Rassismus einsetzt. Auch schon vorher haben er und sein Bruder Kevin-Prince Boateng sich massiv gegen Rassismus im Stadion einsetzt. Kevin-Prince hat bei einem Spiel der italienischen Liga den Ball mit voller Wucht in die Zuschauermenge gedroschen, nachdem ihn die Fans mit Affenlauten begrüßt hatten. Das finde ich nicht nur verständlich, sondern auch berechtigt.
Und, natürlich hat der Sport aufgrund seiner Gleichheitsidee auch eine politische Mission. Das gilt ganz besonders für den Olympismus, der durch und durch politisch ist, was von den Sportverbänden, auch vom Internationalen Olympischen Komitee, nicht genügend gesehen wird, wie ich finde. Die politische Mission des olympischen Sports, die Idee, Sportler aller Nationen, aller Herkünfte, aller ethnischen Zugehörigkeiten zusammen starten zu lassen, ist im Grunde der Kampf gegen den Rassismus. Als 1936 Juden von den Olympischen Spielen ausgeschlossen wurden, wurde diskutiert, ob die amerikanische Nationalmannschaft die Spiele boykottieren sollte. Der Präsident des Olympischen Komitees der USA, Avery Brundage, gab sich schließlich überzeugt, dass es in Deutschland keinen Rassismus gebe. Er bemerkte dazu: In seinem Sportclub in New York herrsche die gleiche Zurückhaltung gegenüber Juden wie im Nazi-Deutschland. Ein solcher Mann war hinterher jahrzehntelang Präsident des Internationalen Olympischen Komitees! Als sich 1968 bei den Olympischen Spielen in Mexico City nach den Rassenunruhen in den USA zwei amerikanische Sprinter auf dem Siegerpodest eine Faust in den Himmel reckten, die Geste der Black-Power-Bewegung, hat das IOC darin einen politischen Akt gesehen und sie sofort ausgeschlossen. Dabei war es eine politische und, wie ich meine, notwendige Geste, um dagegen zu protestieren, dass in den USA die Rassenunterdrückung fortbestand. Es ist zwar eine Grundregel, die Siegerehrung bei Olympischen Spielen nicht für politische Manifestationen nutzen zu dürfen, aber wenn es um den Grundsatz der Olympischen Spiele selbst geht, finde ich so etwas durchaus gerechtfertigt. Für die Gleichheit aller und gegen jede Form von Diskriminierung zu protestieren, und zwar bei allen Gelegenheiten, halte ich für eine Notwendigkeit! Solche Akte wurden immer wieder zurückgewiesen, indem das Internationale Olympische Komitee deklariert hat, nicht politisch zu sein. Aber es ist natürlich politisch, das steht schon in seiner Gründungsurkunde, wenn es heißt, alle Nationen sollen zusammenkommen und miteinander wettkämpfen.
Was heißt eine Nation? Nach dem Ersten Weltkrieg gab es in Europa mit einem Mal etwa zwanzig neue Nationen – und alle wurden zu den Olympischen Spielen zugelassen. Den Ländern, die aus dem zerfallenen Habsburgerreich hervorgingen, bot die Teilnahme an den Wettkämpfen die Möglichkeit, in der Weltöffentlichkeit zu demonstrieren, dass sie eigene Nationen waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die UdSSR erstmalig teil und trat sofort mit einer riesigen Delegation von staatlich finanzierten Sportlern auf. Das alles ist doch in unglaublicher Weise politisch aufgeladen. Erstens können die Olympischen Spiele dazu verhelfen, als Nation auf der internationalen Bühne überhaupt wahrgenommen zu werden. Was sie aber auch geschafft haben: Schon kurz nach den beiden Weltkriegen hat man sich wieder friedlich getroffen. Austragungsort der Olympischen Spiele 1920 war Antwerpen, eine durch den Krieg schwer zerstörte Stadt. Auf den großen flandrischen Schlachtfeldern in unmittelbarer Nähe hatten die Briten – natürlich auch die Deutschen, die jedoch in Antwerpen ausgeschlossen waren – Zehntausende Menschen verloren, zwanzig Prozent der britischen Olympia-Mannschaft waren dort umgekommen. Trotzdem haben die Briten teilgenommen. Später nahmen auch die alten Feinde wieder teil und wurden als Gegner akzeptiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Situation ganz ähnlich. Für die Spiele, die 1948 in London ausgetragen wurden, war Deutschland nicht zugelassen, 1952 in Helsinki, als auch die Sowjetunion erstmals teilnahm, waren die Deutschen aber wieder dabei, ebenso Italien und Japan. Und nicht nur das: Die drei ehemaligen Achsenmächte haben die Olympischen Spiele 1960, 1964 und 1972 ausrichten können. Hierin zeigt sich, was Sport auch politisch leisten kann.
Das Gespräch führten Matthias Micus und Katharina Heise.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. -2020 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020