»Die politische Mission des olympischen Sports ist im Grunde der Kampf gegen den Rassismus« Ein Gespräch mit Gunter Gebauer über sich wandelnde Körperverständnisse, Sport als Selbstzweck, seine politische Dimension und die Notwendigkeit einer neuen Sportethik
Wenn wir über Sport sprechen, dann reden wir auch über den menschlichen Körper. Sie schreiben über die Veränderung der Körperordnung vom feudalen ins bürgerliche Zeitalter. Wenn nun Historiker diagnostizieren, dass das bürgerliche Zeitalter seinen Zenit überschritten hat, gilt das auch für das bürgerliche Körperverständnis oder haben wir mit dem Ideal des trainierten, fitten Körpers heute im Gegenteil die Hochphase des bürgerlichen Verständnisses vom Körper als einem Symbol und Ausdrucksmedium erreicht?
Der Übergang vom aristokratischen zum bürgerlichen Körperverständnis vollzog sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, teilweise noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Die große Veränderung von einer aristokratischen Gesellschaft oder, anders gesagt, einer Gesellschaft mit aristokratischer Führungsschicht hin zu einer Gesellschaft mit bürgerlicher Führungsschicht bestand darin, dass die bürgerliche Schicht arbeitete. Entscheidend war damit nicht mehr ein Titel, die Abstammung, die Mythologie der Familie und des Geschlechts, sondern die Leistung des Einzelnen. Das schlug sich etwas zeitversetzt in der Vorstellung der Körperbildung nieder. Im ausgehenden 19. Jahrhundert spielte der Körper bereits eine bedeutende Rolle für das, was eine Person darstellt. Anstelle der Repräsentation im adeligen Sinne, durch Thron, Wappen und dergleichen oder durch eine Gemahlin, die man den Familienkonventionen entsprechend heiratete, rückte die individuelle Selbstdarstellung vermittels der eigenen Arbeit und des eigenen Körpers ins Zentrum. Diese Entwicklung ist in Deutschland von der Gruppe der Philanthropen befördert worden, die an die körperliche Bildung des antiken Griechenlands anknüpften und sich eine damals neuartige Erziehung ausgedacht haben. Diese sollte anders sein als die Erziehung von jungen Adligen. Sie sollte die Körperbildung mit einschließen, etwa in Form von Gymnastik für die Jugend. Anfangs waren die Philanthropen eine kleine Gruppe von Bildungstheoretikern und Schulreformern, die in einem Internat in Schnepfenthal mit ihrer Pädagogik zunächst auf Aristokraten und hohe Beamten gewirkt haben. Die Kinder, die nach Schnepfenthal geschickt wurden, waren etwa Söhne von Ministern. Früh haben die Reformer aber auch Anklang bei Adligen gefunden, welche die aufgeklärten Bildungsideale des Bürgertums übernommen hatten. Zahlenmäßig viel stärker wirkte die neue Körperbildung jedoch in der Befreiungsbewegung gegen die Franzosen von Friedrich Ludwig Jahn, den »Turnvater«, eine skurrile Person, die aber die jungen Leute begeistern konnte.
Und inwiefern haben Jahn und die Befreiungskriege das neue Körperverständnis geprägt?
Jahn hat eine Art paramilitärische Jungenerziehung auf freiwilliger Basis eingeführt, die im Wesentlichen aus Übungen im Gelände bestand. Das Turnen, das wir heute kennen, mit Pferdspringen, Reckturnen, Barren und dergleichen, war ebenfalls seine Erfindung, hatte aber keine militärische Bedeutung. Das Körperverständnis beeinflusste dieses Turnen insofern, als es nicht den mit Kleidern bedeckten Körper in den Mittelpunkt stellte, sondern einen, der sich in grauer Turnkleidung halbnackt darbot. Paramilitärische Züge fanden sich im Antreten in Reih und Glied sowie in der Bedeutung, welche der Haltung, Kraft und Disziplin beigemessen wurde. Turnen ist historisch immer mit Disziplin verbunden gewesen und ist es im Grunde heute noch. Gerade das Geräteturnen drückt eine Körperbeherrschung aus, die es vorher nur im rein militärischen Sinne gegeben hat – wenn es darum ging, eine Muskete richtig halten, genau zielen und soldatisch marschieren zu können. Nach den Befreiungskriegen gegen die Franzosen hatte der preußische König die Einsicht, dass er die Gesundheit seiner Jugend befördern sollte; gemeint waren erst einmal die Jungen. Es gab Ärzte, die davor warnten, dass die Jugend mit Haltungsschäden aufwachse – und dadurch nicht einsatzfähig, sprich: militärisch untauglich sei. Und so wurde an den preußischen Jungengymnasien Turnen eingeführt. Etwas später, aber noch im 19. Jahrhundert, wurde auch das Turnen für Mädchen eingeführt. Die dahinterstehende Idee, die Jugend eines Landes körperlich fit zu machen, hatte eine rein politische, in diesem Fall wehrpolitische Bedeutung. Die Jugend wurde zwar nicht zu kleinen Kriegern ausgebildet, aber durch den Sport wurden sportliche Werte vermittelt: die Leistungsfähigkeit des Körpers und der Ehrgeiz im (Wett-)Kampf. Der Wettkampf verweist nun aber auf ein weiteres politisch bedeutsames Merkmal des Sports: die Idee der Gleichheit. Denn wer gemeinsam in einer Riege turnt oder auch gegeneinander antritt, begegnet sich auf Augenhöhe. Die Hierarchien, die hier fortbestehen – etwa die Differenz zwischen einfachen Turnern und Vorturnern –, sind Hierarchien des Alters oder der Meriten. Jahn selbst hat eine Art Meritensystem zur Hierarchisierung von verdienten und weniger verdienten Turnern eingeführt, aber dem lagen originär bürgerliche Vorstellungen von Leistung, Verdienst und Gleichheit zugrunde.
Angesichts dieser skizzierten wertebasierten Verknüpfung von Sport und bürgerlicher Gleichheit bzw. Sport und Demokratie: Waren jene Gesellschaften, die früh schon demokratische Elemente in ihre Herrschaftssysteme integriert haben, zugleich Vorreiter beim Sport?
Vorreiter und Vorbild der weiteren Entwicklung war der englische Sport. In England wurde Sport sehr früh an bekannten Public Schools eingeführt, an den Schulen zukünftiger Gentlemen. Dies waren Adelige und hoch gestellte Bürgerliche, die durch Reichtum, durch Können und Leistung zu den Adligen aufgeschlossen hatten und, insofern sie in denselben Erziehungsinstitutionen ausgebildet worden waren, eine Art gemeinsame Klassenfraktion bildeten. Diese Mischung aus Adligen und verdienten Bürgerlichen spiegelt sich noch heute im englischen Oberhaus wider, das einerseits aus Angehörigen alter Adelsgeschlechter besteht und andererseits aus Bürgern, die von der Queen geadelt worden sind – darunter auch der Olympiasieger Sebastian Coe, heute Präsident des Weltleichtathletikverbandes.
Das Gespräch führten Matthias Micus und Katharina Heise.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. -2020 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020