Editorial

Von Felix Butzlaff  /  Matthias Micus

Alles, so scheint es, wird immer undurchschaubarer. Werden wichtige politische Anweisungen – öffentliche Investitionen, Steuern, Arbeitsmarkt, Außenpolitik etc. betreffend – noch von den nationalen Regierungen gegeben oder steuern in Zeiten der Globalisierung längst international verflochtene Konzerne den Kurs? Warum braucht Griechenland ein Milliardenpaket nach dem anderen, wohin fließt das viele Geld? Überhaupt: Wer ist schuld an den ganzen Krisen, von den Banken über den Euro und die Flüchtlinge bis hin zu VW?

Wir können es nicht mehr sagen. Damit einher geht ein Gefühl der Unsicherheit, das längst auch den Privatbereich erfasst hat. Das Tablet macht Fotos von uns, ohne dass wir es merken. Die Computer verfolgen uns überall hin. Durch Handys können alle unsere Bewegungen nachvollzogen werden. Die Presse soll informieren – aber steckt sie mit »denen da oben« nicht womöglich unter einer Decke?

Undurchschaubarkeit führt zu Unsicherheit, führt zu Misstrauen, führt zu Verdacht. Das sind die Ingredienzen des Verschwörungsglaubens. Irgendjemand, daran halten wir unverändert fest, muss ja verantwortlich sein, eben: Schuld haben. Und wenn sich konkrete Personen nicht oder nurmehr undeutlich identifizieren und krisenauslösende Entscheidungen immer weniger exakt benennen lassen, dann tritt an die Stelle des Einzelnen der Kollektivsingular: die politische Klasse, die globale Elite, das Finanzkapital. Und den darstellbaren Ort der Entscheidungsverkündung ersetzt das Arkanum des exklusiven Zirkels, des verschwiegenen Geheimbundes, ja des elitären Paralleluniversums. Denn dass hinter Beschlussfassungen weiterhin handfeste Interessen und Profitabsichten stehen, und seien sie dem Auge des Normalbürgers auch verborgen: Auch von dieser Gewissheit rückt der gesunde Menschenverstand nicht ab.

Und ist die Konjunktur des Verdachts denn verwunderlich? Ist unser Vertrauen in der Vergangenheit nicht bei allzu vielen Gelegenheiten erschüttert worden? Von Politikern, bei denen Rhetorik und Handeln unüberbrückbar auseinanderklaffen; von Unternehmern, die sich um das Gemeinwohl nicht scheren; von wissenschaftlicher Forschung, die sich als Bluff herausstellt; von Werbung, deren Verheißungen sich partout nicht einstellen wollen.

Im Übrigen ist die Gewissheit von lenkenden Kräften und untergründigen Strömen, die drücken, ziehen oder schieben, kein ausschließliches Signum unserer Tage. Als dunkle Vorahnung durchzieht sie unsere Gesellschaften vielmehr seit der Aufklärung. Seitdem sich der Mensch auf sein eigenes Urteil zurückverwiesen sieht und das Individuum zur zentralen Größe und zum letztgültigen Bezugspunkt geworden ist, seit diesem Moment schwand die Fähigkeit oder – je nach Blickwinkel – die Naivität, gläubig oder – wiederum abhängig von der Perspektive – blind zu vertrauen.

Die Entwicklung der westlichen Gesellschaften seit dem 19. Jahrhundert, die politische zumal, lässt sich insofern auch als Geschichte einer erodierenden vertrauensbasierten Integrationskraft beschreiben. Milieus, Vereine, Nachbarschaften, Familien – sie alle leiden unter der Individualisierung und der schwindenden Bedeutung lebenslang verpflichtender Solidarität. Die vielfach beklagte Vereinzelung ist bloß die Kehrseite des ursprünglich selbstgewählten Rückzugs der Einzelnen auf sich selbst. Und da wir mutmaßen, dass unsere Gegenüber genauso selbstbezogen denken und agieren wie wir, trauen wir ihnen – den Politikern, Journalisten, Unternehmern – schlichtweg alles zu.

Die Vertrauen stiftenden Leitplanken integrativer Weltbilder sind darüber brüchig geworden. Parteien, Gewerkschaften und Kirchen singen dieses Requiem seit Langem, manchmal enervierend laut, stets folgenlos. Die allgemeine Parole jedenfalls lautet gegenwärtig stärker denn je in der deutschen Nachkriegsgeschichte: Traue niemandem, erst recht nicht denjenigen, denen Entscheidungsmacht zuteilwird!

Wir merken das an vielen Stellen. Und in Maßen ist dieses Misstrauen die Basis jeder modernen Demokratie. Immerhin basiert das fundamentale Prinzip der Gewaltenteilung ja auf wechselseitiger Kontrolle. In parlamentarischen Demokratien, in denen die Trennlinie nicht zwischen der gesetzgebenden und der ausführenden Gewalt verläuft, sondern idealtypisch zwischen der Regierung und der sie stützenden Parlamentsmehrheit auf der einen, der oppositionellen Parlamentsminderheit auf der anderen Seite, besteht die Funktion dieser Opposition neben der Formulierung von Alternativen und Kritik ebenfalls in der Ausübung von Kontrolle. Das deutsche Grundgesetz schließlich und erst recht hat als Lehre aus den sogenannten Weimarer Erfahrungen
ein System aus Checks and Balances, aus Kräftegleichgewichten und Kontrolleinrichtungen, festgeschrieben, das ein grundlegendes Misstrauen institutionell arrangiert und systemisch abbildet.

Misstrauen, heißt das, ist allgegenwärtig – und nicht per se schlecht, kontraproduktiv, gar undemokratisch. Dies zeigt sich paradoxerweise eben dort, wo es nicht oder zunehmend weniger hinreicht. Vom Misstrauen ausgenommen sind die Lautsprecher der Misstrauensartikulation. Die etablierten Parteien verlieren Mitglieder und Wähler, auf der anderen Seite boomen populistische Bewegungen. Die Kirchen büßen rasant Zuspruch ein, spiritualistische Konventikel verbuchen dagegen Zulauf. Die Leute wenden sich desinteressiert ab, pseudo-investigative Bücher, die Licht in das Dunkel des vermeintlich Bösen zu bringen behaupten, erzielen Rekordauflagen. Die Menschen,
so kann man also sagen, glauben, sie hängen nur in ungebremst abnehmendem Maße dem alten, etablierten Glauben an.

Wir widmen die aktuelle Ausgabe von INDES im Schwerpunkt mit dem Thema »Verschwörungen« einem markanten Phänomen dieses neuen Glaubens. Was macht das Verschwörungsdenken aus, wann lässt sich seriös von einer Verschwörungstheorie sprechen? Wer glaubt an Verschwörungen und wie wird dieser Glaube instrumentalisiert? Wie verändert sich der Verschwörungsglaube über Regionen und Epochen hinweg und in welcher Weise zeigt sich dieser Wandel? Diese und weitere Fragen thematisiert das vorliegende Heft. Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2015 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015