»Den Zeitstrom der Geschichte gliedern« Gespräch mit Peter Graf Kielmansegg über Zäsuren, die digitale Revolution und die Zukunft Europas

Interview mit Peter Graf Kielmansegg

Die »Stunde Null« 1945 gilt als Musterbeispiel für eine Zäsur. Sind Zäsuren per se verbunden mit dramatischen Erfahrungen, mit Krieg, Revolution, Katastrophe?

Was das Jahr 1945 bedeutet, muss für jedes am Zweiten Weltkrieg beteiligte Land gesondert herausgefunden werden. Die Formel von der »Stunde Null« ist auf Deutschland gemünzt – und auch da natürlich nicht wörtlich zu nehmen. »Kontinuität ist immer«, hat Golo Mann einmal gesagt. Das gilt auch für 1945. Die Geschichtswissenschaft hat sich gerade für die Kontinuitäten über die Zäsur von 1945 hinweg stark interessiert; und etwa herausgearbeitet, dass die Jahre 1943–48 im Leben der von der Katastrophe erfassten Menschen so etwas wie eine Zeiteinheit bildeten. Zugleich darf man es mit dem »Kontinuität ist immer« aber nicht übertreiben. 1945 war eine tiefe Zäsur, im Großen, Staatlichen ebenso wie auch in der Mehrzahl aller deutschen Biografien. Freilich gilt gerade auch für diese Zäsur und gerade auch für Deutschland, dass man sie nicht auf einen historischen Augenblick verengen darf. Man muss den Neuanfang der folgenden Jahre, für den der Zusammenbruch der NS-Diktatur Raum schuf, mit in den Blick nehmen, wenn man das, was die Jahreszahl 1945 für das historische Bewusstsein bedeutet, erfassen will. Insofern Zäsuren abrupte, ereignisbestimmte Brüche sind, werden sie sicher oft mit dem verbunden, was Sie »dramatische Erfahrungen« nennen. Aber ich habe ja schon davon gesprochen, dass wir auch – das ist eine Frage der Perspektive und der Zeiträume, die wir betrachten – kürzere oder sogar längere Perioden beschleunigten Wandels als Zäsur deuten können. Die Dramatik ist dann eine, die häufig erst der spätere Betrachter wahrnimmt, nicht der Zeitgenosse. Das trifft auf viele der dynamischen Perioden des sozial- und kulturgeschichtlichen Wandels zu, von denen schon die Rede war. Aber: Die erwähnte digitale Revolution ist gleich wieder ein Gegenbeispiel – sie wird von den Zeitgenossen unmittelbar als abrupter, revolutionärer Umbruch erfahren.

Wie verhält es sich mit der Reichweite einer Zäsur: Kann eine Zäsur auch regional begrenzt sein oder muss sie mindestens nationale, vielleicht gar globale Wirkungen zeitigen?

Ich würde es für ziemlich willkürlich halten, wollte man den Begriff »Zäsur« für historische Großereignisse reservieren. Warum sollte der Autor einer Biografie nicht auch nach Zäsuren in dem Leben, das er darstellt, fragen? Natürlich gibt es ein gewissermaßen öffentliches, jedenfalls wissenschaftliches Interesse vor allem daran, den Zeitstrom der Geschichte im Großen zu gliedern. Aber einen guten Grund dafür, den Begriff »Zäsur« an eine bestimmte Ebene des Geschehens zu binden, sehe ich nicht. Zäsuren mit einer globalen Reichweite dürfte es ohnehin nicht viele geben. Man müsste sie wohl in der frühen Menschheitsgeschichte (die freilich noch keine Globalgeschichte war) oder jener späten Phase der Menschheitsgeschichte, in der die europäische Expansion den Globus tatsächlich zur Einheit werden ließ, suchen. Nicht die Reichweite, um ihren Begriff noch einmal aufzunehmen, ist konstitutiv für jene Diskontinuitäten, die wir Zäsuren nennen, sondern die Tiefe und die Abruptheit des Kontinuitätsbruches.

In Ihrem Buch »Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland« aus dem Jahr 2000 schreiben Sie: »Es hat in der Geschichte der Bundesrepublik nur eine tiefe Zäsur gegeben: die späten sechziger Jahre.« Würden Sie diese These heute immer noch so stehen lassen? Und worin genau bestand aus Ihrer Sicht der nachhaltige Einschnitt der späten 1960er Jahre?

Mein Buch hat die Jahre 1945 bis 1990 zum Gegenstand. Auf diesen Zeitraum bezieht sich meine Aussage; und natürlich auch nur auf den westlichen Teil des geteilten Deutschland, eben die Bundesrepublik. Einer der Gründe dafür, dass noch immer Fremdheit zwischen den beiden Teilen des wiedervereinigten Deutschland besteht, ist ja genau der, dass – beispielsweise – die Jahreszahl 1968, aus westlicher Sicht ein Epochendatum, für das zweite Deutschland gar nichts bedeutet. Für die gesamtdeutsche Geschichte nach 1945, von der wir inzwischen wieder sprechen können, ist – das versteht sich von selbst – der Zusammenbruch der DDR und die Wiedervereinigung die große Zäsur des Dreivierteljahrhunderts, das seit Kriegsende vergangen ist. Meine These war, dass uns in der Politikgeschichte der Bundesrepublik ein anderes Zeitraster entgegentritt als in der Gesellschafts- und Mentalitätsgeschichte; dass der politischen Katastrophenzäsur 1945/49 ein gesellschaftsund mentalitätsgeschichtlicher Epochenbruch etwa zwanzig Jahre später gefolgt sei; ein Epochenbruch, für dessen Kennzeichnung der damals in die Debatte eingeführte Begriff »Wertewandel« eine Schlüsselbedeutung hat. Es war ein Epochenbruch, in dem in einer sehr kurzen Zeitspanne vielfältige säkulare Modernisierungsprozesse in der ganzen Welt der entwickelten, demokratisch verfassten Industriegesellschaften einen historisch beispiellosen Beschleunigungsschub erhielten. Geburtenrückgang, Emanzipation der Frau, sexuelle Revolution, Bildungsrevolution, Säkularisierung: Das sind einige der Stichworte, die in diesen Zusammenhang gehören. Alle Entwicklungen, auf die diese Stichworte verweisen, haben etwas mit der Wohlstandsexplosion der späten 1950er und der 1960er Jahre zu tun, zu der es keine Parallele in der deutschen Geschichte gibt. Die Bundesrepublik war dabei auf der einen Seite einfach Teil der westlichen Welt, auf der anderen Seite aber auch ein Land mit einer sehr besonderen Geschichte, die in diese Prozesse hineinwirkte. Dass ein Land, welches keine Wurzeln in einer zustimmungsfähigen Geschichte mehr hat, von einer solchen Dynamik des Wandels anders getroffen wird als glücklichere Länder, ist zumindest eine plausible Vermutung. Um Ihre Frage abschließend klar zu beantworten: Ich sehe auch zwanzig Jahre, nachdem das Buch geschrieben worden ist, keinen Grund, von der These abzurücken, dass der gesellschaftsund mentalitätsgeschichtliche Umbruch der 1960er und 1970er Jahre die tiefste Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik gewesen sei.

Sie haben in den vergangenen dreißig Jahren viel zur europäischen Integration geschrieben. Gibt es eine Zäsur im europäischen Integrationsprozess, die den Übergang von einer Wirtschafts- zu einer echten politischen Union nachhaltig versperrt hat?

Von einer Zäsur, die den Übergang von einer Wirtschafts- zu einer echten politischen Union versperrt habe, würde ich nicht sprechen. Mir hat noch niemand erklären können, was eine echte politische Union sein solle, wenn nicht ein Bundesstaat. Also lautet die Frage: Warum hat sich die Wirtschaftsunion bis heute nicht zu einem europäischen Bundesstaat fortentwickelt? Die Antwort ist sehr einfach: Es hat sich gezeigt, dass die Völker Europas und auch die Regierungen der Mitgliedstaaten das nicht wollen. Sie wollen die intensive Zusammenarbeit, sie wollen auch ein Stück Supranationalität, aber sie wollen nicht die Aufgabe der eigenen Staatlichkeit. Und sie haben gute Gründe dafür. Das Maß an fortschreitender Zentralisierung, das ein europäischer Bundesstaat unvermeidlich mit sich brächte, wäre für eine Föderation von 28, demnächst 27 Nationalstaaten mit je eigener Sprache, je eigener Geschichte und einer je eigenen ausgeprägten politisch-kulturellen Identität ganz unangemessen. Ein europäischer Bundesstaat wäre, verglichen mit den Gliedstaaten, auch mit einem erheblichen Verlust an demokratischer Substanz verbunden. Am Anfang, als im Schatten der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges die ersten Integrationsschritte getan wurden, war es einfach, sich für die »Vereinigten Staaten von Europa« zu begeistern. Inzwischen, nach der Erweiterung von sechs auf 28 (27) Mitgliedstaaten, haben wir in fünfzig, sechzig Jahren Integrationsgeschichte die Erfahrung gemacht, dass unbedachter Integrationsenthusiasmus das europäische Projekt nicht weiterbringt, sondern gefährdet. Heute geht es darum, diejenigen Aufgaben zu identifizieren, für die wir ein handlungsfähiges, einiges Europa wirklich brauchen. Und dann müssen wir gemeinsam das tun, was mit Blick auf diese Aufgaben notwendig ist. Bislang ist das europäische Projekt vor allem ein nach innen gewandtes Projekt. Eine gesamteuropäische Rechtsordnung wurde aufgebaut und immer weiter ausgebaut. Das muss nicht ewig so weitergehen. Die europäische Gemeinschaft muss sich neu definieren, auf eine präzise Weise aufgabenorientiert. Und ihre Aufgaben liegen nicht mehr primär im Innern. Wir brauchen ein handlungsfähiges, einiges Europa vor allem um der Selbstbehauptung Europas in einer Welt weniger großer Mächte mit ausgeprägten Eigeninteressen und begrenztem Respekt vor schwächeren Gliedern der Staatengemeinschaft willen. Die Entschlossenheit und brutale Energie, mit denen China imperiale Weltmachtansprüche verfolgt und Russland seine geostrategischen Interessen durchzusetzen versucht, sind besorgniserregend. Die Unzuverlässigkeit der USA als Partner Europas ist es nicht weniger. Das ist die Welt, in der Europa sich behaupten muss.

Seite ausdrucken Download als PDF

Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2018 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018