»Den Zeitstrom der Geschichte gliedern« Gespräch mit Peter Graf Kielmansegg über Zäsuren, die digitale Revolution und die Zukunft Europas

Interview mit Peter Graf Kielmansegg

Glauben Sie, dass der 23. Juni 2016, an dem die Briten für den EU-Austritt stimmten, in fünfzig Jahren als eine echte historische Zäsur betrachtet werden wird, die den Anfang vom Ende der Europäischen Union eingeleitet hat, wie viele Rechtspopulisten gerade behaupten?

Ob der »Brexit« einmal als echte historische Zäsur in der Geschichte des europäischen Projektes wahrgenommen werden wird, können wir noch nicht wissen. Welche Folgen er haben wird, ist immer noch offen. Der Anfang vom Ende der Europäischen Union wird er, da bin ich mir ziemlich sicher, nicht sein. Die Interessen einer Mehrzahl von europäischen Staaten sind inzwischen zu fest mit der Union verknüpft. Aber um zur Selbstverständlichkeit für die Völker Europas zu werden, muss die Europäische Union sich wahrnehmbar an den unzweifelhaft gemeineuropäischen Aufgaben bewähren.

Zuweilen wird der Begriff der historischen Zäsur auch kritisch betrachtet. Worauf zielt die Kritik und welche Alternativen werden diskutiert?

Ich habe für reine Begriffsdebatten nie viel Sinn gehabt. In der Sache kann es nur darum gehen, ob die Vorstellung von einer historischen Zäsur grundsätzlich zu viel von jener Kontinuität, die immer ist, ausblendet und deshalb problematisch ist. Ich denke – und da kann ich an meine erste Antwort anknüpfen –, dass wir ohne Begriffe, die den Zeitstrom der Geschichte gliedern, nicht auskommen; und dass es sehr tiefe, in den Zeitstrom hineinwirkende Abbrüche und Anfänge auch tatsächlich gibt. Wir müssen, wenn wir gliedern, nur im Kopf behalten, dass immer auch nach den Kontinuitäten zu fragen ist.

Welche gesellschaftlichen Umbrüche der jüngeren Geschichte werden in ihrer Bedeutung am meisten überschätzt, welche am meisten verkannt?

Diese Frage lässt sich nicht anders als spekulativ und nur aus der Distanz beantworten. Und die fehlt uns natürlich gerade bei Ereignissen der jüngeren Geschichte. Vielleicht sollte man lieber nach Deutungsunsicherheiten als nach Unter- oder Überschätzung historischer Umbrüche fragen. 9/11 wurde schon am Tage danach zum Epochenereignis erklärt. Bis heute wissen wir nicht so genau, ob und in welchem Sinn das zutrifft. Natürlich kann auch Geschichte selbst in ihrem Fortgang Umbrüche in ein anderes Licht rücken. Die Oktoberrevolution von 1917 ist hierfür ein gutes Beispiel: Solange die Sowjetunion bestand und ein machtvoller Kommunismus diese Revolution als ein heilsgeschichtliches Datum verstand, mit dem sich der Lauf der Weltgeschichte ein für alle Mal geändert habe, musste die nicht-kommunistische Welt – und die Welt der demokratischen Verfassungsstaaten im Besonderen – sich dieser Deutung, auch wenn sie diese natürlich nicht übernahm, doch jedenfalls stellen. Sie musste annehmen, dass mit der Oktoberrevolution ein Fundamentalkonflikt, ein Weltbürgerkrieg, wie man oft gesagt hat, eröffnet sei, dessen Ausgang nicht absehbar war – ein Konflikt zwischen zwei antagonistischen Modellen gesellschaftlicher Ordnung, die einander Legitimität nicht zugestehen konnten. Als dann Atomwaffen ins Spiel kamen, gewann dieser Konflikt gar apokalyptische Züge. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, dem Auseinanderfallen ihres Imperiums und im Licht der Entwicklung Russlands nach diesem Zusammenbruch bietet sich eine neue Perspektive an. Siebzig Jahre Sowjetunion können als eine Episode gesehen werden, eine dramatische, folgenreiche, für die Weltgeschichte hoch bedeutsame Episode, aber eben doch als ein Ausschnitt aus einem größeren Zusammenhang. Als dieser größere Zusammenhang kann das Kontinuum imperialer Politik der Großmacht Russland wahrgenommen werden, die in wechselnden ideologischen Einkleidungen, mit wechselnden Stoßrichtungen und in wechselnden Erscheinungsformen über lange historische Zeiträume hinweg Vorherrschaftsansprüche erhebt, die für ihre Umwelt bedrohlich sind. Mithin: Gerade auch die Diskussion über Zäsuren kann zu einem Geschichtsbild der Vieldeutigkeiten beitragen.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2018 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018