Editorial

Von Felix Butzlaff  /  Matthias Micus

Mit der vorliegenden Ausgabe beschreiten wir in mehrerlei Hinsicht, wenn man so will, INDES-Neuland. Zum einen handelt es sich um das erste Sonderheft der Zeitschrift. Zusätzlich zu den regulären Heften erscheinend, bedeuteten die anfallenden Aufgaben – von der Planung der Beiträge über die Kommunikation mit den Autoren bis hin zum Textlektorat – ein Ausmaß an Extraarbeit, das die Kapazitäten der Redaktion beinahe überstiegen hätte. Statt der üblichen 16 Beiträge pro Quartal mussten diesmal mehr als dreißig eingeworben sowie bearbeitet werden – wobei zeitgleich selbstverständlich auch die Konzeption des turnusgemäß folgenden übernächsten Heftes nicht vernachlässigt werden durfte.

Zum anderen fungiert dieses Sonderheft auch als Festschrift – wenngleich vielleicht in etwas irritierender Weise verdeckt. Eine Festschrift, so mag der Außenstehende an dieser Stelle einwenden, ist nun aber doch nichts Außergewöhnliches, dergleichen gibt es schließlich wie Sand am Meer. In der Tat: Jeder durchschnittlich bedeutende Hochschullehrende wird zu irgendeinem runden Geburtstag jenseits der fünfzig mittlerweile mit einer solchen Ehrung bedacht. Da schreiben dann in der Regel – abhängig im Wesentlichen von der fachwissenschaftlichen Vernetzung des Geehrten – mehr oder weniger prominente Fachkollegen von mehr oder weniger exzellenten Universitäten kürzere oder längere Texte; angesiedelt in Themenbereichen, zu denen der Jubilar irgendwann in seinem langen Forscherleben einmal gearbeitet hat. Insofern liegt, noch einmal, eher nahe als fern, auch Franz Walter im Jahr seines sechzigsten Geburtstages einen Band mit Beiträgen von ihm geschätzter Kollegen an politikwissenschaftlichen Lehrstühlen zu erstellen und sodann bei passender Gelegenheit in einem würdigen Rahmen feierlich zu überreichen.

So naheliegend, so ungewollt. Die Differenzen dieses Sonderheftes zu herkömmlichen Festschriften sind offensichtlich. Zunächst einmal handelt es sich nicht um ein Buch, erschienen in einem Verlag, dessen Reputation sich auf die jeweilige Fachöffentlichkeit gründet und begrenzt – Franz Walter ist ein Professor für Politikwissenschaft, das Renommee von Vandenhoeck & Ruprecht aber begründen die Historiker. Sodann wurden um Beiträge nicht die üblichen Freunde, Weggefährten und früheren Mitarbeiter ersucht; auch Fachgrenzen spielten als Auswahlkriterium der Autorinnen und Autoren keine entscheidende Rolle. Im Speziellen wollten wir von Franz Walter gerne gelesene Köpfe gewinnen – ganz unabhängig davon, ob es sich um Politologen, Soziologen, Historiker, Ökonomen oder Journalisten handelte; wobei letztere ja im Übrigen ebenfalls, wenn auch außeruniversitär, Politologen, Soziologen, Historiker oder Ökonomen sind. Allen gemeinsam war die Vorgabe – auch dies ein Novum für INDES –, sich frei und ganz nach Gusto dem Oberthema dieser Ausgabe zu nähern.

Schließlich bezeichnet die gewählte Heft-Überschrift keinen dezidierten Publikationsschwerpunkt Walters, beinahe im Gegenteil. Zwar kreisten seine Gedanken in den vergangenen Jahren wiederholt intensiv um die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«; wohl waren mehrere seiner Mitarbeiter eine Zeitlang mit Rechercheaufträgen zu Facetten des entsprechenden Fragekomplexes betraut; nicht zuletzt plante er vor einiger Zeit, dazu eine Monografie zu verfassen. Doch ist diese Absicht – Stand heute – unerledigt geblieben und das Buch eines der ganz wenigen, die Walter nie geschrieben hat.

Dass es sich bei der »Ungleichzeitigkeit«, wie die Beschäftigten an Walters Institut für Demokratieforschung die Wortverbindung abzukürzen pflegen, um die »Unvollendete« dieses passionierten Forschers handelt, ist sicherlich zu einem Gutteil dem Zufall geschuldet. Nicht so allerdings der Gegenstand selbst – sind die üblicherweise mit der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« erfassten Phänomene doch im Überschneidungsbereich von Geschichtstheorie, Kulturanalyse und Sozialforschung angesiedelt, ebenjenen wissenschaftlichen Untersuchungsansätzen, deren bevorzugte Erkenntnisinteressen und methodische Zugriffe auch jene von Franz Walter waren (und bis heute geblieben sind).

Neu im engeren Sinne ist die Formel nun freilich nicht. Zwei Autorennamen fallen verlässlich, wenn die Rede auf sie kommt, auch in den Beiträgen dieses Heftes: Ernst Bloch und Reinhart Koselleck. In dem, was sie darunter fassen und woran sie ihr Verständnis der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« schärfen, unterscheiden sie sich gleichwohl beträchtlich. Der Marxist Bloch, dem die Formel als Hilfsmittel zur Erklärung nationalsozialistischer Wahlerfolge in der Endphase der Weimarer Republik diente, bezeichnete damit alles Gestrige, Unmoderne, Vorkapitalistische, das aus der Vergangenheit in die Gegenwart reiche und von den Erfordernissen des proletarischen Klassenkampfes ablenke. Das »objektiv Ungleichzeitige« ist laut Bloch »das zur Gegenwart Ferne und Fremde«, die – so einer der für ihn zentralen Termini – »unaufgearbeitete Vergangenheit«, die »kapitalistisch noch nicht ›aufgehoben‹ ist«. Objektiv ungleichzeitig sind das individuelle Kleineigentum an Haus und Boden, ländliche Gemeinschaftsgefühle und das Denken in Kategorien wie der des »Volkes«, kurzum: sämtliche »Widersprüche des Überkommenen zum kapitalistischen Jetzt«, d. h. »Elemente alter Gesellschaft, welche noch nicht gestorben sind«.[1] Dieses objektiv unaufgearbeitete Vergangene findet seine Entsprechung im »subjektiv Ungleichzeitigen«, grundiert Gefühle von Verbitterung und Empfindungen dumpfen Widerspruchs, die sich »in Krisenzeiten als gestaute Wut« äußern.

Als Marxist erweist sich Bloch auch dort, wo er die Gesellschaft seiner Zeit entlang von Klassenzugehörigkeiten gliedert und die Trägergruppen des gleichzeitig Ungleichzeitigen bestimmt. Den vielzitierten Satz: »Nicht alle sind im selben Jetzt da«, mit dem er seine Ausführungen zur Ungleichzeitigkeit einleitet, ergänzt Bloch einige Zeilen später durch den Hinweis, dass sich die jeweilige Verortung in der Zeit danach richte, »wo einer leiblich, vor allem klassenhaft steht«.[2] Wiewohl auch Arbeiter den Nationalsozialisten in Scharen zuliefen und mentale Traditionsüberhänge Blochs Ungleichzeitigkeitsbestimmung zufolge die zentrale Ursache der Empfänglichkeit für rechte Propagandaparolen darstellen, charakterisiert er das Proletariat dementsprechend als unanfällig, da revolutionär, also gleichzeitig, weshalb »die älteren Widersprüche auf der proletarischen Seinsgrundlage nicht zum Problem [werden]«[3].

Drei andere Gruppen dagegen sieht er den Rechten besonders leicht auf den Leim gehen: die Jugend, das Bauerntum und die verelendete Mittelschicht. Zwar lebe die Vergangenheit aus jeweils durchaus unterschiedlichen Gründen in ihnen fort – bei der Jugend erkläre das »Schwärmerische«, bei den Bauern ihr »Wurzeln im Boden«, bei der verelendeten Mittelschicht die »Unsicherheit« die Rückwärtswendung –; doch sei ihnen gemeinsam, dass sie gleichermaßen gebündelt Traditionsballast mit sich herumschleppen würden.

Ganz anders Koselleck. Seine Beschäftigung mit der Ungleichzeitigkeit entsprang nicht im weiteren Sinne politischen Motiven, um das Ausbleiben einer sozialistischen Klassenkampfsituation und die Popularität des nationalistischen Volksgemeinschaftskultes in einem Moment krisenhafter Zuspitzung in der Endphase der Weimarer Republik zu erklären. Sein Interesse galt vielmehr zeittheoretischen Fragen: »Der Gewinn einer Zeitschichtentheorie«, so Koselleck, »liegt darin, verschiedene Geschwindigkeiten messen zu können, Beschleunigungen oder Verzögerungen und damit verschiedene Veränderungsweisen sichtbar zu machen, die von großer temporaler Komplexität zeugen.«[4]

Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet die Beobachtung, dass dieser temporalen Komplexität weder die mittelalterlich-kreisläufige noch die ab dem 18. Jahrhundert sich durchsetzende lineare Zeitvorstellung gerecht würde. Stattdessen enthalte »jede geschichtliche Sequenz […] sowohl lineare wie rekurrente Elemente«[5]. Die darin zum Ausdruck kommende Vielschichtigkeit von Zeit bewirke, dass jede Prognose zukünftiger Entwicklungen zum Scheitern verurteilt sei, eben weil »historische Entwicklungen ebenso wenig linear, entlang eines geraden Zeitpfeils verlaufen, wie sich kreisläufig das Immergleiche ereignet« – denn wäre dem so, dann allerdings, so Koselleck weiter, müsste sich Zukunft zumindest grob vorhersehen lassen.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Sonderheft-2016 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016