Editorial

Von Jens Gmeiner  /  Matthias Micus

Das Thema »Heimat« hat in den letzten Jahren in Deutschland eine auf den ersten Blick erstaunliche Renaissance in Politik, Medien und Gesellschaft erfahren. Wenig verwunderlich mag noch erscheinen, dass die auch in der Bundesrepublik mit Aplomb emporgekommene politische Rechte die Notwendigkeit von kultureller Identität, völkischer Gemeinschaft und nationaler Heimat als Arznei gegen das vermeintliche Gift grenzüberschreitender Globalisierung und weltweiter Migrationsbewegungen deutet. Intuitiv plausibel ist auch die Erweiterung des Innenministeriums um den Zuständigkeitsbereich Heimat unter der Ägide eines Ressortchefs von der CSU.

Überraschend mutet dagegen – ebenso spontan – die aktuelle Konjunktur des Heimat-Themas im Spektrum links-liberaler Parteien, Literaten, Kulturschaffender an. Man erinnere nur an die Erzählungen des französischen Soziologen Didier Eribon; an die Streitschrift von Thea Dorn; oder an jüngere Redebeiträge bspw. des sozialdemokratischen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier oder des Bundesvorsitzenden der Grünen, Robert Habeck, der den Heimatbegriff nicht kampflos der AfD überlassen will. Was ist also davon zu halten, wenn nun auch linke Parteien die Bedeutung der Heimat hochhalten – und eine neugegründete linke Sammlungsbewegung nicht mehr primär die internationale, sondern zuförderst die nationale Solidarität propagiert?

Freilich: Gar so verblüffend ist die aktuelle Affinität der politischen Linken zur Heimat-Rhetorik nicht. Und sie resultiert keineswegs nur aus der Einsicht der Parteistrategen, im permanenten Kampf um öffentliche Zustimmung die Besetzung positiv konnotierter Begriffe nicht dem politischen Gegner überlassen zu dürfen. Die Göttinger Parteienforschung und namentlich der frühere Herausgeber dieser Zeitschrift, Franz Walter, haben in ihrer Orientierung auf sozialkulturelle Stabilisationsfaktoren von Parteibindungen und politischen Mentalitäten vielmehr schon seit Langem auf die Heimat-Semantiken zur Beschreibung auch linker Vergemeinschaftungen zurückgegriffen. Prägnant umschrieb Walter in einer Publikation im Jahr 2000 das sozialdemokratische Milieu so: »Die Organisation als Heimat, der Funktionär als Heimatpfleger, der Marxismus als Heimatideologie – das waren lange Zeit die Stabilitätspfeiler der chronisch angefeindeten und gefährdeten Sozialdemokratie.«[1] Gerade im Verlust der Heimatqualität und in dem damit korrespondierenden Gefühl der »Heimatlosigkeit« aufseiten ihrer Mitglieder und Anhänger machten Walter und sein Ko-Autor Tobias Dürr damals ganz generell die Gründe für die Niedergangserscheinungen und Krisentendenzen der Volksparteien aus.

Die oben zitierte Textpassage verdeutlicht zugleich einen Widerspruch im landläufigen Heimat-Verständnis: Einerseits rekurriert Heimat auf das eigene Herkommen und mithin auf etwas Unvergängliches und Unverfügbares;[2] andererseits wird Heimat gemacht – von den »Heimatpflegern«, die allerdings nicht immer und überall Funktionäre sein müssen –, weshalb das Verständnis dessen, was Heimat ist, einem ständigen Wandel unterliegt.

Das betrifft nicht zuletzt den geografischen Raum, auf den sich Heimat bezieht. Habbo Knoch verweist in diesem Heft darauf, dass nicht zuletzt Kampagnen zur Identitätsbildung darauf Einfluss nehmen, ob sich Heimatgefühle mit dem familiär-nachbarschaftlichen Nahraum, mit regionalen Einheiten wie den deutschen Bundesländern oder mit dem Nationalstaat verbinden. Dazu genügt ein Blick auf das europäisch-transatlantische Ausland: Während dem »Brexit«-Votum und der von Donald Trump ausgegebenen Parole »America first« ein nationales Heimatbewusstsein zugrunde liegt, beziehen sich die separatistischen Bewegungen etwa in Spanien auf substaatliche Regionen.

Verbindend, so scheint es, ist den verschiedenen Heimatbezügen dagegen die Wahrnehmung des Verlustes. Die »Sehnsucht danach«, also nach Heimat, so hat es zutreffend der schon erwähnte Grünen-Vorsitzende Habeck beschrieben, »wird in Exilmomenten dringend«. Dies dürfte ebenso der Grund dafür sein, dass in der Vergangenheit vor allem auch in Exilantengemeinschaften intensiv über Heimat diskutiert wurde, wie auch dafür, dass Heimat-Diskurse regelmäßig mit Phasen rapider Veränderungen und fundamentaler Strukturbrüche zusammenfallen – ein Kennzeichen übrigens, welches die Gegenwart mit dem »Zeitalter der Nervosität« um 1900 verbindet, jener Zeit, als ein politisches Konzept von Heimat überhaupt erst aufkam.

Aber: Lässt sich dergleichen historisch verallgemeinern, korrespondieren Heimat-Konjunkturen generell und nicht bloß punktuell mit tiefgreifenden gesellschaftlichen, ökonomischen und/oder kulturellen Transformationen? Besteht die auf den ersten Blick anachronistisch anmutende Attraktivität der Idee der Heimat per se darin, dass sie sich »am mentalen Verkehrsknotenpunkt von Globalisierung, romantischem Neo-Konservatismus und neuen politischen und gesellschaftlichen Konfliktlinien« (Cornelia Koppetsch) befindet? Und welchen Veränderungen unterliegen (und unterlagen) das Verständnis, die Bedeutung sowie die Inszenierung von Heimat im historischen Verlauf?

Diesen und weiteren Fragen will die aktuelle INDES aus – wie stets – verschiedenen Perspektiven nachspüren. Wir wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre.

Anmerkungen

[1] Franz Walter u. Tobias Dürr, Die Heimatlosigkeit der Macht. Wie die Politik in Deutschland ihren Boden verlor, Berlin 2000, S. 69 f.

[2] Siehe den Beitrag von Habbo Knoch in diesem Heft.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2018 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018